Sintflut (German Edition)
vom Handgelenk. Und erst recht nicht, wenn sie kein Werkzeug dabei hat, um das Uhrband zu entriegeln. Die Bergenrot funktioniert noch, auch der komplizierte Verschluss ist heilgeblieben. Jemand hat das Band mit einer scharfen Zange kurzerhand auseinander geschnitten.
Ich nehme die Tüte, stelle die Aktentasche zurück, ducke mich hinter einen Busch. Da kommt Fleischmann zurück und geht zielstrebig auf das Auto zu. Er hat einen Umschlag in der Hand und als er am Auto ist, öffnet er die Beifahrertür und greift nach der Mappe. Als er sie aufmacht, merkt er sofort: Die Plastiktüte ist weg. Er schaut sich um, läuft ein paar Schritte in Richtung Straße, bleibt dann stehen und kommt zurück. Dann steigt er ein und fährt davon.
Ich gehe zurück in mein Zimmer und stelle mich wieder ans Fenster. Jetzt fährt das Auto auf den Hof, mit dem Akan gestern weggefahren ist. Ein paar Minuten später klopft er an meiner Tür.
»Oh je, was machst du denn für ein Gesicht?«, fragt er, als er mich sieht.
»Das wollte ich dich auch gerade fragen.« Sein Gesicht hat die graue Farbe der Müdigkeit, unterlegt von der weißen Farbe des Entsetzens. Das erste Mal sieht er nicht wie ein Mann aus, der gerade aus dem Angelurlaub kommt.
»Anna Lenz ist tot«, bringt er hervor und zündet sich eine Zigarette an. Er setzt sich auf die Bettkante und starrt zu Boden. »Kinder haben sie heute Morgen beim Pilzesammeln im Wald gefunden. Sie wurde mit einem schweren Gegenstand erschlagen und ausgeraubt.«
Ich denke an das letzte Mal, als ich sie lebend gesehen habe. Im Motel Paradis, auf dem Balkon mit Fleischmann, angewidert, aber an der Story ihres Lebens dran. Jetzt ist es die Story ihres Todes geworden und sie tut mir leid. Sie war sich für nichts zu fein, aber dann war sich der Erfolg zu fein für sie.
»Ich glaube, ich weiß, wer das getan hat«, sage ich leise. Akan, der immer noch raucht und zu Boden starrt, schaut mich fragend an. Ich erzähle ihm von meinem Beobachtungsposten am Fenster, von meinem Entschluss, an Fleischmanns Tasche zu kommen, von Annas Armbanduhr und was es damit auf sich hat. Von Max und Gültschen erzähle ich nichts.
»Warum hast du das gemacht?«
»So genau weiß ich das auch nicht. Ich stand da die ganze Zeit und hatte das Gefühl zu platzen, wenn ich mich nicht irgendwie abreagiere. Dann sah ich Fleischmann mit der Tasche. Es war ein plötzlicher Impuls … keine Ahnung, mir ging so Vieles durch den Kopf. Dass Anna tot ist, wusste ich zu dem Zeitpunkt ja noch nicht, sonst wäre ich bestimmt im Zimmer geblieben.«
»Fleischmann hat«, sagt Akan in sachlichem Tonfall, »einen Raubmord vorgetäuscht, um selber nicht verdächtigt zu werden. Dazu musste er ihr die Uhr abnehmen, denn kein Räuber würde sie zurücklassen. Er wollte sie vielleicht gerade loswerden, als du ihn beobachtet hast. Bestimmt sind DNS-Spuren drauf. Wenn ich die Uhr zur Polizei bringe und erzähle, er sei abgehauen, reicht das für eine Großfahndung.«
»Und was weiter?«
»Auch wenn das zynisch klingt, aber für uns ist jetzt eine gute Gelegenheit, zu verschwinden. Mich werden sie nicht mehr brauchen, wenn sie die Uhr haben und dich als Zeugin kriegen sie nicht. Niemand wird von deiner Anwesenheit erfahren, dafür sorge ich schon.«
18
Wir nehmen die Straße, auf der ich vor zwei Tagen hierher fuhr. Die Sonne kommt zwischen den Wolken hervor und lässt den nassen, kilometerlangen Holzzaun glänzen, der alle Wiesen zur Straße hin begrenzt. Niemand folgt uns, das bilde ich mir jedenfalls ein. Trotzdem schaut Akan immer wieder in den Rückspiegel.
Dann erzählt er von Tirpesti, wo er Birgul hingelockt hat. Sie fuhren zu einem Wirtshaus und warteten auf Akans Freund, der sie zu dem Versteck mit den Hamangia-Figuren führen sollte. Der Freund kam nicht, aber auf dem Herd in der Küche stand ein Topf, aus dem es köstlich duftete und die Wirtin hatte für die beiden Männer einen Teller übrig. Dazu lagerte in ihrem Keller ein guter Tropfen, die Herren sollten nur hinuntergehen und sich etwas aussuchen.
Inzwischen waren auch die Journalisten angekommen. Sie saßen vor dem Haus in ihren Autos und warteten ebenfalls. Akan legte bei Birgul ein Wort für sie ein. Da Birgul ein gutes Herz hat, willigte er ein, sie ins Haus zu bitten. Aber nur, wenn sie ihn aus ihren Berichten heraushalten würden. Die Wirtin hatte auch für die neuen Gäste einen Teller Suppe, Wurst, kaltes Fleisch, Gurken, Käse, Brot und Butter. Weinflaschen wurden
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