Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete. Der Kerker! Konnte das möglich sein? Er und Marcus hatten alle Stellen, die sonst in Frage kamen, von denen bekannt war, dass sie Kerker besaßen, der Reihe nach ausgeschlossen … aber was, wenn …?
Er zog sich seine Kleider aus, ging in Nells Zimmer. Morgen, so schwor er sich grimmig, würde er das Dower House und seine Vergangenheit genauestens untersuchen. Die Vorstellung, dass die Verließe aus Nells Albträumen sehr wohl unter dem Dower House liegen könnten, war erschreckend. Das Wissen, dass, während er und Nell weniger als eine Meile entfernt schliefen, unaussprechliche Grausamkeiten unschuldigen Opfern angetan wurden, entsetzte ihn.
Kurz darauf schlüpfte er neben Nell ins Bett, zog sie in seine Arme. Er brauchte die Wärme und das Gefühl ihres weichen Körpers, um die Kälte zu vertreiben. Sie schlief tief
und fest, rührte sich auch dann nicht, als er einen Kuss auf ihre Schläfe hauchte. Mit einer Hand liebkoste er die Wölbung, unter der ihr Kind wuchs, und mit ihr und ihrem Kind sicher in seinen Armen vergaß er für eine kleine Weile alles Böse und schlief ein.
Dicht an den tröstlich großen Körper ihres Mannes geschmiegt, begann Nell zu stöhnen und gegen die heimtückische Macht des Albtraums zu kämpfen, der sie seit Stunden in seinen Klauen zu halten schien. In dem Albtraum, anders als in allen anderen, die sie bis dahin erlebt hatte, fand sie sich in tintenschwarzer Dunkelheit wieder, konnte nicht sehen und auch noch nicht einmal ahnen, wo sie war. Wände schlossen sich um sie, und sie hatte das Gefühl, sich in einem engen Gang zu befinden. Mit einem Mal wusste sie, dass der Schattenmann in der Nähe lauerte, verborgen in der Schwärze. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie konnte ihn spüren , konnte ihn atmen hören, als stünde er neben ihr. Sie wusste, dass der Schattenmann dort im Dunkel war. Und er wartete … auf sie? Sie erschauerte, und ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf bei dem bloßen Gedanken, dass sie irgendwie sein nächstes Opfer geworden war, aber der Albtraum hielt sie zu fest in seinem Griff, und der Schrei erstarb ungehört.
Die totale Dunkelheit machte ihr Angst, und die Gewissheit, dass der Schattenmann dort lauerte, lauschte und seinen nächsten Zug überlegte. Er stand, wie es ihr schien, Stunden so da, aber schließlich rührte er sich - Nell hörte das Rascheln seiner Kleider - und eine Sekunde später flackerte blasses Licht von der kleinen Fackel auf, die er angezündet hatte. In ihrem schwachen Licht konnte Nell nun erkennen, dass er in einem engen Durchgang stand mit steinernen Stufen, die nach unten führten. Die Wände waren die vertrauten
rußgeschwärzten Steine aus anderen Albträumen, und sie erkannte, dass sie sich in dem Zugang zu dem Kerker befanden.
Sicheren Schrittes eilte der Schattenmann die Treppe hinab, die an einer Gittertür endete. Er stieß das Eisentor auf und betrat den Kerker. Nell wappnete sich für den Anblick eines weiteren Opfers, aber zu ihrer Erleichterung war das Gewölbe bis auf den Schattenmann leer. Sein schwarzer Umhang wallte um seine breitschultrige Gestalt, als er eine weitere, größere Fackel anzündete, die an der Wand hing. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte sie einen Blick auf sein Profil werfen, aber ein scharlachroter Schal verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts, und mit seinem weitkrempigen schwarzen Hut, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, hätte er jedermann sein können.
Mühsam gezügelte Gewalttätigkeit ging von ihm aus, als er in dem Kerker auf und ab lief. Dann blieb er vor der Steinplatte stehen, die den Raum beherrschte. Er kehrte ihr den Rücken zu, und sie schaute zu, wie gebannt von Ekel und Entsetzen, wie er immer wieder den blutbefleckten Stein zärtlich liebkoste, wo so viele seiner Opfer schreiend ihr Leben gelassen hatten.
Diesmal war Nell nicht von den Qualen eines Opfers abgelenkt, sodass sie den Schattenmann genau studieren konnte, versuchen konnte, sich alles einzuprägen, was ihr später helfen könnte, ihn zu identifizieren, wenn sie wieder wach war. Was hat er an sich, das ihn einmalig macht? , fragte sie sich. Worin unterschied er sich unverwechselbar von anderen?
Als spürte er ihre konzentrierte Musterung, erstarrte er. Langsam wandte er den Kopf und schaute über seine Schulter - ihr geradewegs in die Augen. Der Schal und der Hut
verbargen seine Züge fast vollständig, sodass nur ein schmaler Streifen über und unter
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