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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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haben, als sich einen netten Sommerabend zu machen. Das Absurdeste an der Sache war, dass es um siebzig Euro ging. Für ganze siebzig Euro hätte ich um Haaresbreite ins Gras gebissen.
    Jemand klaut also in dem Laden an der Spree die Kasse und geht damit stiften. Ich mit den anderen hinterher, vier, fünf Mann, darunter Steffen, und ihn verfolgt, bis er in einem Waldstück verschwindet. Wir teilen uns auf. Ich folge ihm schnurstracks, die anderen rennen drumherum, für den Fall, dass er nach rechts oder links entwischen will. Und in dem Wald erwarten mich fünf Typen, jeder mit einem Cuttermesser in der Hand.
    Damals kam es auf, dass man nicht mehr normal abgestochen wurde, sondern ein sauscharfes Teppichmesser in den Leib gerammt bekam. Die Klinge dieser Messer ist so dünn, dass sie beim Zustechen abbricht und im Körper zurückbleibt. Tut irrsinnig weh. Und jetzt stehen da seine fünf Kumpel im Mondschein, alle auf Kokain, alle mit so einem Messer in der Hand, alle durchaus in der Stimmung, einen Türfuzzi wie mich kaltzumachen. Ich trage zwar einen Stichschutz, bin aber trotzdem sicher: Diesmal gehst du drauf. Hier und jetzt hat dein letztes Stündchen geschlagen.
    Dass sie auf Kokain sind, sehe ich daran, wie sie sich auf die Unterlippen beißen. Egal, hilft alles nichts, rede mit ihnen. Alte Türsteherregel. Drauflosquatschen, um wichtige Sekunden rauszuschlagen. Sekunden, die deine Kollegen brauchen, um dir beizuspringen. Sekunden, in denen es dir vielleicht gelingt, dem anderen eindringlich genug ins Gewissen zu reden, dass er zögert. Sekunden, die dir den winzigen, aber entscheidenden Zeitvorteil für den eigenen Angriff verschaffen. Außerdem ist es ein normaler Reflex, es mit Reden zu versuchen, wenn die Situation ansonsten aussichtslos ist.
    Ein normaler Reflex ist allerdings auch, wegzulaufen. Aber das hatte ich an der Tür gelernt: Damit machst du dich zum Opfer. Damit weckst du den Jagdinstinkt. Damit unterschreibst du dein Todesurteil. Also gelassen bleiben. Erst mal rausfinden, wer der Anführer ist. Oder der gefährlichste. Und– langsame Bewegungen! Lasse ich mir alles im Zeitraum von zwei Schrecksekunden durch den Kopf gehen und beherzige es auch, und dann sprudelt es aus mir heraus: » Passt uff, Jungs, egal, wat jetzt passiert… Ich bin Vater. Ich habe eine Tochter. Ich liebe meine Tochter. Wenn ihr mich verletzen wollt, verletzt mich an den Beinen.« Und, weil sie auf Kokain sind: » Wisst ihr überhaupt, was ihr hier anstellt? Kann sein, dass ich draufgehe. Wollt ihr zu Mördern werden?« Immer an die allermenschlichsten Gefühle appellieren. Dann: » Behaltet die Kasse einfach. Ist mir scheißegal! Ich schenk sie euch. Nehmt sie mit.« So, das sind jetzt zwanzig, dreißig Sekunden, und bisher ist nüscht passiert. In diesem Moment tauchen meine Kollegen auf. Von hinten und von der Seite. Und gehen sofort drauf.
    Steffen kümmert sich um mich. Nimmt mich und schleust mich aus der Gefahrenzone, ganz armeemäßig, in geduckter Haltung, wie unter Beschuss, die gute, alte Fallschirmspringerschule. Setzt sich zu mir. » Bist du verletzt?« Da fange ich an zu heulen. Alles ist ausgestanden, die anderen haben ganze Arbeit geleistet, aber mir sitzt die wahnsinnige Angst der letzten halben Minute in den Därmen, und ich breche in Steffens Armen zusammen. » Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.« Zehnmal, zwanzigmal: » Ich kann nicht mehr.« » Gut, dass du die Ruhe bewahrt hast«, sagt Steffen. » Du hättest keine Chance gehabt.« Irgendwann erhebe ich mich. Wir gehen zurück, stellen dem Kassierer die gerettete Kasse auf den Tresen, der öffnet sie und holt den Inhalt raus. Einen Fünfziger und einen Zwanziger.
    Siebzig Euro. Für siebzig Euro den Kopf riskiert. Da habe ich Katrin versprochen: » Das war das letzte Mal.«
    Sieben Jahre lang habe ich die Entwicklung an der Tür verfolgt, und es ist immer schlimmer geworden. Leute wie die fünf im Mondschein sind Menschen, die in der Luft hängen, die sich auf jeder Party das Kokain reinziehen, voller Aggression stecken und nur noch eines im Kopf haben: Kohle, Kohle, Kohle. So viel wie möglich, so schnell wie möglich. Und an der Tür hat man laufend mit solchen Typen zu tun. Zuerst habe ich Katrin gar nichts davon erzählt. Ich wollte nicht. Um Leben und Tod– das versteht keiner, der nicht dabei war. Also behältst du es für dich, und der ganze Terror spielt sich in deinem Kopf ab.
    Nur– irgendwann lässt der Schock nach. Und dann

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