So heiß wie der Wuestenwind
war in meinem Leben zwar nicht auf Rosen gebettet, und besser scheint es in Zukunft ja auch nicht gerade zu werden, aber trotz allem lebe ich ganz gerne. Auf jeden Fall ist es besser, als überhaupt nicht zu existieren. Und dafür danke ich dir.“
Tränen traten Anna in die Augen. „Oh Gott … Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass du das so siehst …“ Sie hielt inne, dann brach es aus ihr heraus: „Du meinst es doch wirklich so, oder?“
Aliyah musste lächeln. „Wenn wir uns besser kennenlernen, wirst du noch früh genug merken, dass ich immer genau das sage, was ich wirklich denke. Viele finden das ziemlich unmöglich, aber bei mir weißt du immerhin genau, woran du bist.“
Die Anspannung fiel von Anna ab. „Es macht mich so glücklich, dass du das sagst. Ich habe so lange mit dieser großen Schuld, mit diesem Schmerz gelebt. Dann erfuhr ich plötzlich, dass du lebst und ganz nah bei deinem Vater bist und dass ich dich sehen darf. Ich wäre schon zufrieden gewesen, dich aus der Ferne zu sehen, weil ich ja Angst hatte, du würdest mich hassen, und das zu Recht. Aber du hast die Größe, mir zu verzeihen, und das ist wunderbar. Du bist so lebendig, so spritzig …“
„Lebendig und spritzig? Das nenne ich mal eine nette Umschreibung. Die meisten Leute finden, ich bin sprunghaft und chaotisch.“
Anna wirkte erstaunt. „Wer behauptet denn so etwas? Das bist du überhaupt nicht.“
Aliyah musste lachen. „Warte mit deinem Urteil, bis du mich etwas länger kennst.“
„Nein, mein Urteil werde ich nicht mehr ändern. So etwas fühlt man. Du bist lebhaft und temperamentvoll und, nach allem, was ich gehört habe, kreativ und unabhängig. Und, ja, vielleicht bist du manchmal unberechenbar, aber in einem positiven Sinne. Du tust lieber das Richtige als das, was die Leute erwarten.“
„Wow, das hast du schön gesagt. Ich tue lieber das Richtige als das, was die Leute erwarten. Anna, das mache ich zu meinem Wahlspruch.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Äh, ist es okay, wenn ich dich Anna nenne? Bei ‚Mom‘ hätte ich irgendwie ein komisches Gefühl …“
„Natürlich. Ich finde, das ist eine gute Lösung.“
Aliyah spürte, dass ihre Mutter immer noch vom schlechten Gewissen geplagt wurde. „Anna, was geschehen ist, ist geschehen. Lass uns in die Zukunft blicken und freundschaftlich miteinander umgehen. Zwischen uns soll keine Befangenheit mehr herrschen.“
„Ja, das ist mein größter Wunsch. Oh mein Gott, wie können die Menschen dich nur für unvernünftig halten?“
Das innere Band zwischen ihnen wurde immer stärker, das spürte Aliyah genau. Jetzt war sie bereit, ihrer Mutter ihr größtes Geheimnis anzuvertrauen.
„Meine Schwierigkeiten begannen schon in der Kindheit“, begann sie zu erzählen. „Schon in der ersten Klasse konnten die Lehrer mich nicht für den Unterricht interessieren. Ich konnte nicht mal still sitzen. In meinem Kopf spielten sich unglaubliche Fantasien ab, die ich auch jedem erzählte. Die Ärzte tippten zuerst auf Autismus, aber für diese Diagnose war ich zu neugierig und mitteilsam. Weil sie dem Kind einen Namen geben mussten, erklärten sie, ich leide unter ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Im Volksmund sagt man auch Zappelphilipp-Syndrom dazu.“
Besorgt sah Anna sie an. „Das ist meine Schuld – du hast es von mir geerbt. Ich war immer zu aktiv, zu munter, zu schnell. Das hat Atef wohl zuerst zu mir hingezogen, bis es ihm dann wohl doch zu viel wurde, ganz abgesehen davon, dass er zum Wohle seines Königreiches eine andere Frau heiraten musste.“
Aliyah schüttelte den Kopf. „Früher habe ich auch auf solches Psychogeschwätz gehört, heute glaube ich nicht mehr daran. Wer setzt denn fest, was ‚normal‘ ist und was nicht? Jeder ist nun mal, wie er ist. Die Ärzte sagten einfach, mit mir stimme etwas nicht, und versuchten mich zu ‚heilen‘. Das war der Anfang vom Ende. Aufgrund ihrer falschen Diagnose gaben sie mir verschreibungspflichtige Medikamente und erhöhten die Dosis immer mehr. Zehn Jahre lang bin ich wie im Drogenrausch herumgelaufen.“
„Oh mein Gott, Aliyah, das tut mir so leid.“
„Mir auch. Irgendwie habe ich meine ganze Kindheit verpasst. Ich habe alles nur wie durch eine Milchglasscheibe mitbekommen.“
„Haben deine Eltern das denn gar nicht bemerkt?“
„Anfangs noch nicht. Denn die Lehrer, die das Ganze ja erst ins Rollen gebracht hatten, meinten, jetzt sei ich eine Musterschülerin. Sie
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