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So nah bei dir und doch so fern

So nah bei dir und doch so fern

Titel: So nah bei dir und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Allatt
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für Tee. Während einer Schluckübung fragte meine Therapeutin Sophie: »Yorkshire oder Earl Grey?«
    Als wenn sie das hätte fragen müssen!
    »Earl Grey, bitte«, erwiderte ich.
    Also verschwand sie in der Küche, stellte den Kocher an und kam mit einem halb vollen Becher milchigem Earl Grey Tee zurück. Sie reichte ihn mir und beobachtete stolz, wie ich den Plastikbecher mit der rechten Hand hielt und trank, indem ich die Flüssigkeit über die Tülle am oberen Rand in mich hineinschlürfte. Dieser Moment, als ich meine erste Tasse Tee zu mir nahm, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Ich beherrschte es. Die Tischtennisball-Übungen hatten funktioniert. Es gelang mir, die Flüssigkeit in den Mund zu saugen. Ich brauchte keine Schwester, die mir den Tee tröpfchenweise mit dem Löffel einflößte. Ich trank eigenständig, und es war ein grandioses Gefühl. Auch den allerletzten Tropfen schlürfte ich noch aus dem Becher.
    »Gibt’s noch einen zweiten?«, fragte ich mit einem dreisten Grinsen.
    »Wir wollen es mal nicht übertreiben. Vielleicht morgen.«
    Es war genau die Antwort, die ich erwartet hatte.
    Der nächste Schritt war püriertes Essen, Joghurt und große Riegel Cadbury’s Caramel Chocolate, die meine Besucher in meinen Spind schmuggelten. Ich legte mir jeweils ein kleines Stück davon auf die Zunge und ließ es schmelzen, bis mir die klebrige Süßigkeit die Kehle hinabrutschte.
    Ich hatte gelernt, langsam zu essen, indem ich den Kopf nach unten neigte und nur ganz kleine Bissen nahm, sodass das Essen die Speiseröhre passieren konnte. Das klappte meistens, auch wenn es schon mal vorkam, dass etwas in der Röhre stecken blieb. Da ich über keinen Husten- oder Würgreflex verfügte und es nicht wieder ausspucken konnte, zeigte mir eine der Schwestern einen cleveren, wenn auch völlig unorthodoxen Trick: Sie kitzelte mich mit der Zahnbürste hinten im Rachen, und sofort hustete ich das Essen aus. Diese Technik erwies sich nach meiner Krankenhauszeit als äußerst nützlich. Gewöhnlich nahm das Essen aber den richtigen Weg, und nach einiger Zeit hatte ich gut an Gewicht zugenommen.
    Von nun an diente meine PEG nur noch zur Verabreichung von Schmerzmitteln und meiner täglichen Dosis Lebertran. Solange ich mich im Krankenhaus befand, war ich froh, meine Medikamente auf diese Weise einzunehmen, denn der Lebertran schmeckte derart widerlich, dass ich den Geschmack auch dann zu spüren glaubte, wenn mir das Zeug direkt in den Magen geleitet wurde.
    Schließlich musste meine Ernährungsberaterin einsehen, dass sie einen aussichtslosen Kampf führte, mich am Essen zu hindern. Sie ließ mich ein Haftungsausschluss-Formular unterschreiben, in dem ich erklärte, gegen ihren Willen zu handeln. Ich sorgte selbst für meine Ernährung und legte mit meinem Schokokaramel und einer Suppen-Diät gute sechs Kilo zu.
    Bevor mir die PEG entfernt werden konnte, musste »Ming, der Gnadenlose« seine Zustimmung erteilen, und dafür hatte ich mich einer erneuten Videofluoroskopie zu unterziehen. Ich lehnte es kategorisch ab, die Prozedur schon wieder über mich ergehen zu lassen. Nachdem ich bei diesem Test bereits zwei Mal durchgefallen war, wollte ich mir nicht die nächste Enttäuschung einhandeln. Außerdem war ich nicht bereit, meinem Körper innerhalb von drei Monaten eine dritte Strahlendosis zuzumuten.
    Eine Woche vor meiner geplanten Entlassung kam die PEG -Schwester, um mir zu erklären, wie ich meine PEG zu Hause benutzen sollte.
    »Scheren Sie sich zum Teufel!«, sagte ich. »Ich nehme das Ding nicht mit nach Hause!«
    Ich schaltete auf stur und bekam schließlich meinen Willen. Vier Tage vor der Verabschiedung aus dem Krankenhaus erschien ein Assistenzarzt und zog die PEG raus. Es tat höllisch weh und glich dem Versuch, ein Kamel durch ein Nadelöhr zu bringen, als der Gummipfropfen, der in meinem Magen eingepasst war, damit die PEG nicht verrutschte, durch ein Loch von einem Fünftel seiner Größe herausgezogen werden musste. Ohne Betäubung, mit lediglich einer Dosis Paracetamol (der letzten Versorgung über die PEG ) spürte ich jedes Zerren und jede Drehung, als der Arzt daran zog. Mit einem letzten kleinen Plopp war sie draußen.
    »Das hat mir kein bisschen wehgetan«, sagte der Arzt.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis der Schmerz nachließ und ich darüber lachen konnte. Der Arzt klärte mich darüber auf, dass es vierundzwanzig Stunden dauern könnte, ehe die Wunde unter dem Verband zu heilen begänne.

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