So nah bei dir und doch so fern
strecken, um mein Körpergewicht wegzudrücken. Zu Beginn schaffte ich es höchstens zwei oder drei Mal, doch mit jedem Besuch wuchs meine Kraft. Nachdem ich mit dem niedrigsten Gewicht begonnen und selbst mit dem noch zu kämpfen hatte, bauten sich die Muskeln langsam wieder auf, und der Anzeiger auf der Gewichtsskala kletterte nach oben.
Für meinen Oberkörper schickte mich Michael auf die Brustpresse, wo ich meinen stärkeren rechten Arm benutzte, um anfangs die leichtesten Gewichte zu stemmen. Als ich nach und nach kräftiger wurde, gelangen mir immer mehr Wiederholungen.
Um meine Kondition zu verbessern, ging Michael mit mir an der Wand des Fitnessstudios entlang, wobei er mich mit dem Arm stützte. Zu Beginn waren es nur ein paar Schritte, doch im Laufe der Zeit wuchs die Strecke. Wie bei einem Kind, das Radfahren lernt, ließ die führende Hand irgendwann los, und ich setzte ganz alleine und selbstsicher einen Fuß vor den anderen.
Nach sechs Wochen regelmäßigen Trainings war ich imstande, den Rollstuhl stehen zu lassen und auf meinen Krücken ins Fitnessstudio zu gehen. Weil mich die anderen Studiogäste inzwischen kannten, boten sie mir Hilfe an und wollten mich hineinführen, was ich ablehnte. Es war nett von ihnen gemeint, doch ich wollte keine besondere Behandlung, sondern dachte: Ihr versteht es wahrscheinlich nicht, aber ich möchte so normal sein wie ihr, nicht abhängig von euch.
Als ich an Kraft zulegte und fitter wurde, erweiterte Michael mein Programm: Bein heben, Brustpresse, fünf Minuten auf dem Crosstrainer und dem Fahrrad. Und Einheiten auf dem Laufband, das ich schon gehasst hatte, als ich noch hundertprozentig fit gewesen war – es war mir einfach zu langweilig. Ich liebte das Laufen an der frischen Luft. Michael wählte für mich ein Gehprogramm von anfangs 3 km pro Stunde – das Ziel waren 4,8 km, was für die Teilnahme an einem Lauf reichte. Bei den ersten Schritten auf dem Laufband hatte ich Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und ich musste mich links und rechts an den Stangen festhalten, doch als mein Selbstvertrauen wuchs, konnte ich die Stangen loslassen und beschleunigen.
Zusätzlich zu der täglichen Fitnessstudioroutine belegte ich zusammen mit Anita einen Pilates-Kurs im Gemeindesaal von Dore. Anita hatte schon früher etliche Versuche unternommen, mich zur Teilnahme zu überreden, doch ich hatte jedes Mal abgelehnt. Ich war absolut kein Fan der Pilates-Methode; die ganze Konzentration auf das Stretchen und die Atmung erschien mir langweilig. Ich bevorzugte hartes und schnelles Training. Jetzt jedoch überzeugte mich Anita, dass es gut für mein Gleichgewicht sei. Zwei Mal pro Woche gesellten wir uns zu den anderen Müttern und älteren Ladys des Dorfes, um uns zu beugen und biegen, und ich muss zugeben, dass es mir half, Körperhaltung und Gleichgewicht zu stabilisieren.
Anita überredete mich sogar dazu, Gesangsstunden zu nehmen. Sie liebt das Singen, sie ist Mitglied im Dorfchor, und bei unseren Frauenabenden war sie immer die Erste, die zu singen begann. Sie vermutete, eine Stunde wöchentlich mit ihrer Gesangslehrerin würde mir helfen, mein Zwerchfell zu kontrollieren und zu stärken, und außerdem würde es meine Aussprache verbessern. Ich versuchte es mehrere Monate lang, aber das ganze Einatmen machte mich schwindelig, und ständig die Tonleiter la-li-la-li-la rauf und runter zu singen, fand ich zu blöde, daher gab ich es auf.
Anita borgte mir sogar einen Hometrainer, sodass ich mich regelmäßig aufs Rad setzen konnte. Das einzige Problem dabei war, dass ich jemanden brauchte, der mir auf den Sattel half und mich wieder herunterholte.
Ende November verabschiedete ich mich von meinen Krücken. Es war ein glücklicher Tag für mich, als ich sie in den Kleiderschrank zu all den Paar Schuhen stellte, die ich gekauft und nur einmal getragen hatte. Ich war zuversichtlich, kürzere Strecken alleine gehen zu können. Dennoch war bereits abzusehen, dass ich mein Ziel, Weihnachten wieder laufen zu können, nicht erreichen würde.
Ich war enttäuscht, aber nicht verzweifelt, als Michael mir erklärte, ich habe bei der Festlegung meines Ziels wohl gewaltig unterschätzt, wie viel Zeit es erforderte, das Heben der Knie und das Laufen zu lernen. Beim Gehen, selbst beim schnellen Gehen, beansprucht man weniger Muskeln, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, weil die Beine fast gestreckt bleiben.
Wenigstens konnte ich mich darüber freuen, gerade meinen ersten
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