Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
zu werfen. Ich werde das Gefühl aber nicht los, dass die Frau etwas zu verheimlichen hat. Wir sind bereits an der geöffneten Haustür, als mein Blick an dem bunten Wandvorhang hängen bleibt, der von der Decke bis zum Boden reicht. Ich ahne, dass sich irgendetwas dahinter verbirgt. Als ich mit der nach vorne gerichteten Waffe den Vorhang zur Seite schiebe, stürzt die Frau auf mich zu. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber ich bin mir jetzt sicher, dass es da etwas zu entdecken gibt.
Es ist eine Treppe, die offenbar zum Dachstuhl führt. Die zierliche Person drängt sich an mir vorbei, stemmt sich mit aller Kraft in den Aufgang und schreit und fleht, fast schon hysterisch. Ich habe keine Ahnung, was sie sagt, aber jetzt muss ich erst recht nachsehen. Ich schiebe sie zur Seite und sage ihr, sie solle endlich ruhig sein. Kehl hält sie mir vom Leib und beobachtet, wie ich etwa 17Stufen über ihm an einer Dachluke verharre. Ich habe keinerlei Deckung, wenn ich jetzt den Kopf durch die Luke schiebe. Die Frau hängt Kehl in den Armen und kreischt weiterhin in ihrer Sprache. Ich nehme meine jetzt entsicherte Waffe fester in die Hand. Mit einem kräftigen Schlag stoße ich die Dachluke nach oben hin auf, richte mich schnell auf und blicke hinein. Zu meinem Erstaunen passiert nichts. Das Einzige, was mich unvorbereitet trifft, ist ein abartiger Gestank, den ich nicht einordnen kann. Er ist jedenfalls so ekelerregend, dass es mich Mühe kostet, den Brechreiz, der mich überkommt, zu unterdrücken. Kehls besorgte Frage, ob alles klar sei, bejahe ich, obwohl ich es eigentlich selber noch nicht weiß. Das Licht, das durch ein großes Fenster in den niedrigen Raum fällt, erleuchtet ihn hell, wirft aber auch dunkle Schatten in die Ecken und Nischen. Ich muss sehr nah herangehen, um ein Bett, das ich in der rechten Ecke hinter mir entdecke, genauer betrachten zu können. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das Zwielicht. Von Moment zu Moment erkenne ich deutlicher, dass ein Mensch vor mir liegt. Es ist eine alte Frau mit langem weißem Haar. Sie ist abgemagert und ihre bleichen Wangen sind zu tiefen Kuhlen eingefallen. Mein Blick bleibt an ihren dunklen Augen hängen, die sie weit geöffnet hat. Mit gesenkter Waffe mache ich einen Schritt auf sie zu, um sie zu berühren.
Gerade als ich mich zu ihr beuge, lässt mich ein aufgeschreckter Schwarm Fliegen unwillkürlich zurückschrecken. Das ist zu viel. Ich muss mich übergeben und schaffe es nicht einmal, mich dazu von der alten Frau abzuwenden. Für einen kurzen Augenblick verliere ich sogar mein Gleichgewicht. Mir ist auf einmal bewusst, wonach es hier so ekelhaft riecht. Es ist der Gestank von Kot und Urin, der sich in der Wärme unter dem Dach zu einer ammoniakartigen Wolke vermischt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob die Frau im Sterben liegt oder bereits tot ist. Erneut bleibt mein Blick an ihrem haften. Sie lebt noch. Oder doch nicht? Es ist mir plötzlich egal. Mich drängt es nur nach draußen. Fluchtartig stolpere ich auf wackeligen Beinen die Treppe hinunter, vorbei an Kehl. Die zierliche Frau ist nun ganz still und lehnt mit versteinerter Miene an der Wand. Ich blicke ihr direkt ins Gesicht. Schweigend, eine halbe Ewigkeit lang, so scheint es mir. Dann wende ich mich ab. »Komm, Kehl, raus hier!« Draußen fragt er mich, ob ich auf dem Dachboden etwas Auffälliges bemerkt hätte. »Nein, nichts«, antworte ich und zünde mir eine Zigarette an. Wir gehen zu einem der Wölfe, die an den Zufahrtswegen geparkt sind. Obwohl Kehl gemerkt zu haben scheint, dass ich ihn angelogen habe, meldet er, dass alles unauffällig gewesen ist. Dann wendet er sich mir zu und sagt, dass wir noch ein paar Häuser vor uns haben, die durchsucht werden müssten. Ich nicke nur und stecke mir mit der Glut der alten direkt eine weitere Zigarette an.
Das Erlebnis auf dem Dachboden gibt mir zu denken. Ich frage mich, was wir hier bewirken können. Die Erklärung aus unserem Landeskunde-Unterricht, dass die Feindschaft zwischen den Ethnien auf eine Jahrhunderte zurückliegende Schlacht auf dem Amselfeld begründet ist, scheint mir hier jedenfalls nicht zu greifen. Während des Aufenthalts im Lager der Brigade erfahre ich, dass es um die Moral der Männer am Morinigrenzübergang nicht besser bestellt ist. Meine Kameraden vom Grenzposten erzählen mir von einem jungen Serben, der auf der gegenüberliegenden Seite des Sees durch eine Mine schwer verletzt wurde. Der Mann schrie stundenlang um
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