Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
nicht schnell zum Umzug entschließt, ist seines Lebens keinen Moment mehr sicher. Immer wieder werden in aufgebrochenen Wohnungen die madenzerfressenen Leichen ihrer einstigen Bewohner gefunden. Wenn die Bewohner Glück hatten, wurden sie von den Tätern mit einem Kopfschuss getötet. Die genauen Hintergründe der Tat bleiben meist ebenso ungeklärt wie die Identität der Täter. Seit unseren nächtlichen Patrouillen in der Stadt sind die Gewalttaten stark zurückgegangen. Die Ausgangssperre ab 22:00 Uhr wird jetzt respektiert. Mehr als 1130 Minen, Blindgänger und andere Explosivstoffe konnten während unseres Einsatzes beseitigt werden. Die meisten Minen werden von den Pioniertruppen unschädlich gemacht, aber auch die Fallschirmjäger, die eine EOR/ EOD-Ausbildung haben, sind sich nicht zu schade, mit der Minensuchnadel loszuziehen. Allen voran Stabsfeldwebel Bande, der Spieß der Einsatzkompanie am Morinipass. Durch seine Streifzüge mit der Suchnadel im und um das Lager »Adlerhorst« herum können weit über 100Minen keinen Schaden mehr anrichten. Die Menschen in unserem Einsatzgebiet haben Vertrauen zu uns gefasst und die Kinder rufen »Fallschirmjäger gut!«, wenn sie uns sehen. Ich hoffe, dass sie die deutschen Soldaten in ebenso guter Erinnerung behalten werden wie ich die russischen aus meiner Kindheit. Um ihnen eine Freude zu machen, habe ich mir schon zu Beginn des Einsatzes von meiner Mutter Buntstifte und Filzmaler schicken lassen, die ich während meiner Wache am Tor an die Kinder verteile. Viele der Bilder, die sie mir daraufhin schenkten, hebe ich auf. Oft sind es die vom Krieg zerstörten Häuser, die ihnen als Motiv dienen. Ich frage mich, wie ihre Zukunft wohl aussehen wird.
Die Briefe meiner Eltern sind schon sehr abgegriffen. Ich liege zwei Tage vor meiner Heimkehr im Feldanzug auf meiner Matratze und schaue sie alle noch einmal durch. Eigentlich kann ich sie schon auswendig aufsagen, aber ich lese sie trotzdem immer wieder gerne. Mit jedem Satz steigt die Vorfreude, meine Familie wiederzusehen. Ich will ihnen viele ihrer Fragen persönlich beantworten, auf die ich in meinen Briefen nicht eingehen konnte. Mir ist bewusst, dass der MAD sich unsere Feldpost stichprobenartig vornimmt. Da ich keine Lust habe, mich beim G2Sicherheitsoffizier melden zu müssen und eine Predigt über meine Pflicht zur Verschwiegenheit zu erhalten, lasse ich vieles von dem, was mich hier beschäftigt, in meiner Feldpost unerwähnt.
Das Lager »Blaue Halle«, das so mühsam und kostenintensiv aufgebaut wurde, wird komplett aufgelöst. Wir montieren alles in Rekordzeit wieder ab und hinterlassen nicht viel mehr als die tonnenweise aufgeschütteten blauen Schottersteine und einen Kühlcontainer, aus dem wir noch alles plündern, was uns als Reiseproviant gelegen kommt. Am nächsten Morgen brechen wir mit allen Fahrzeugen zur 300 Kilometer entfernten Hafenstadt Thessaloniki auf. Das Gepäck wird zu unserem Erstaunen von einer ortsansässigen Spedition zu den gecharterten Schiffen gebracht. Da wir unser Zeug erst nach dem Urlaub bei der Rückkehr in die Kaserne wiedersehen werden, nehme ich statt des kleineren Rucksacks den Seesack für mein Handgepäck. Über die Monate haben sich so viele Mitbringsel und Geschenke für meine Familie angesammelt, dass ich den Platz benötige.
Wir müssen Mazedonien komplett durchqueren. Es zieht uns so sehr nach Hause, dass wir nur dann eine Pause einlegen, wenn die Fahrer ausgewechselt werden müssen. An der Grenze nach Griechenland kommt es zu einer mehrstündigen Unterbrechung, da man uns partout nicht ins Land lassen will. Obwohl der Konvoi selbstverständlich auf NATO-Ebene abgesprochen war, scheint das bis zu den wachhabenden Grenzbeamten nicht durchgedrungen zu sein.
Es ist tiefste Nacht, in der griechischen Behörde ist niemand zu erreichen, der den Grenzposten bestätigen kann, dass unser Militärkonvoi nach Thessaloniki genehmigt ist. Unserem Spieß wird das nach einigen Stunden des Hin- und-her-Diskutierens zu dumm. Ganz in Fallschirmjägermanier öffnet er den Schlagbaum eigenhändig. Die Grenzer trauen sich trotz ihrer Maschinenpistolen anscheinend nicht, ihn daran zu hindern. Sie schreien zwar aufgebracht durch die Gegend, aber wir verstehen kein Griechisch. Fest entschlossen, uns nicht länger aufhalten zu lassen, geben wir Gas. Die Strecke scheint auch anderen bekannt zu sein, denn an vielen Brücken und Mauern prangt zur Begrüßung in großen Lettern »NATO, FUCK
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