Soldatenglück - Sedlatzek-Müller, R: Soldatenglück
wie Menschen gewaltsam sterben, zu sehen, wie ihre zerrissenen Leiber um einen herum verstreut liegen, zu hören, wie Kameraden mit verkohlten Gesichtern und aberwitzig verdrehten Gliedmaßen, ihren Blick an mich geklammert nach der Mama schreien oder einfach vor Schmerzen brüllen – darauf war ich verdammt nicht vorbereitet. Auf welchem gottverdammten Lehrgang wird man darauf vorbereitet? Ich muss ihn wohl verpasst haben. Ich hasse die Schlauschwätzer, die ihren Arsch im Fernsehsessel breitsitzen und meinen, sie wüssten Bescheid. Einen Scheiß wissen sie. Wo sind diese Helden? Wenn sie den Job machen würden, dann müssten ja nicht solche Schwächlinge wie ich »die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland am Hindukusch verteidigen«.
Mein Bedürfnis, meinen Körper wahrzunehmen, ganz real zu spüren, dass ich lebe, nimmt immer extremere Formen an. Während das Fallschirmspringen mir früher einen Nervenkitzel verschafft hat, nehme ich es jetzt so hin wie eine Fahrt im Bus. Stattdessen suche ich zunehmend die Gefahr auf dem Motocrossgelände eines Freundes. Stundenlang fahre ich mit einem Crossmotorrad durch schlammige Pfützen und springe jauchzend über Erdwälle. Es macht mir nichts aus, auch mal zu stürzen und mir dabei tüchtig wehzutun, weil ich gerade beim Sturz einen Schub an Lebendigkeit empfinde. Besonders dann, wenn mir etwas nur gerade so gelingt, erlebe ich ein wahres Hochgefühl. Ähnliches passiert mir beim Laufen. Ohne erkennbaren Anlass bekomme ich manchmal Gänsehaut und fühle mich so euphorisiert, dass ich dann noch schneller laufen kann.
Den Höhepunkt erreiche ich bei einem 100 Kilometer-Langstreckenmarsch in Belgien. Die als Wanderroute gedachte Strecke laufe ich mit Lancer in nur 13 Stunden ab. Da unsere künstlichen Trommelfelle hohem Druck nicht gewachsen sind und beim Freifallsprung oder Tauchen einreißen würden, kommen diese Leistungsprüfungen für uns nicht mehr infrage. Es gelingt aber auch auf andere Art, den Körper dazu zu bringen, das seit der Explosion an eine ständig erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen gewöhnte Gehirn zu stimulieren. Durch extreme Anstrengung gelingt es uns, die Reserve auszuschütten, die der Körper für Notfälle zurückhält. Ich fühle mich dann unbesiegbar und nahezu unsterblich. Der Nachteil ist, dass ich bald danach jedes Mal in ein emotionales Loch falle, aus dem ich für einige Zeit nicht wieder herauskomme. Ich würde am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen bleiben und nur die Verantwortung Idor gegenüber zwingt mich auf die Beine. Ich kann mir die innere Leere und Kälte nicht erklären und empfinde in solchen Situationen nur noch Wut und große Traurigkeit.
Meine Eltern begreifen nicht, weshalb ich mich dann zurückziehe und mit keinem Menschen etwas zu tun haben will. Besonders meinem Vater ist meine vermeintliche Faulheit ein Dorn im Auge.
Er versucht mich dazu anzutreiben, aufzustehen und am Familienleben teilzunehmen. Ich reagiere mit Gereiztheit, wodurch der Haussegen fast jedes Wochenende schief hängt. Besonders meine jüngere Schwester Johanna, die noch bei unseren Eltern lebt, nimmt es sehr mit, dass es jedes Mal zum Streit kommt. Daher werden meine Heimfahrten immer seltener, bis sie schließlich fast ganz aufhören. Die einzige Möglichkeit, die ich habe, um mich wieder zu beruhigen, ist, Idor in den Arm zu nehmen und ihm durchs vertraute Fell zu streichen. Er liegt dann ganz dicht neben mir in meinem Bett und kuschelt sich ganz an mich heran. Mein geliebter Hund weiß, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist, und schaut mich traurig an. Während ich ihm durch sein helles, weiches Fell streiche, schläft er ein. Die tiefe Ruhe seiner Atemzüge überträgt sich auf mich, dann schlafe ich trotz der Anspannung ein und finde etwas Ruhe.
Immer häufiger gerate ich in der Folgezeit mit meinen Kameraden aus dem Hundezug aneinander und fühle mich unverstanden. Das Gefühl, unverwundbar zu sein, manifestiert sich immer mehr. Wenn ich an den Wochenenden in die Disco gehe, kommt es oft zu Schlägereien. Durch das Krafttraining hat sich mein Körper zusehends verändert. Ich wiege mittlerweile wieder fast 90 Kilo und habe nur 16 bis 17 Prozent Körperfettanteil. Mein ständiger Ehrgeiz, noch leistungsfähiger und trainierter zu werden, bringt mich zusätzlich in eine Außenseiterposition. Die meisten Kameraden vom Hundezug haben für meine inzwischen zur Besessenheit gewordenen sportlichen Aktivitäten kein Verständnis.
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