Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
der überhaupt reagierte; er rannte fast auf ihn zu.
»Ach du meine Fresse!«, keuchte er. »Der ist ja vollständig digitalisiert!«
»Squalors letzter Versuch, seinen geistigen Zerfall aufzuhalten – und es hat auch funktioniert. Es reicht natürlich nicht mehr aus, ihn wieder zu heilen, aber es hat den Schaden eingedämmt.«
»Ich dachte, ein Gehirn könne man nicht digitalisieren?« Meine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier.
Marin zuckte mit den Schultern. »Meistens nicht, ja. Aber bei manchen Leuten funktioniert es eben doch, aus welchem Grund auch immer. In dieser Hinsicht wurde und wird viel geforscht: Die Staatssekretäre planen einen SSD, der vollständig aus digitalisierten Menschen besteht, in Kästen wie diesem. Die sollen dann Robo-Avatare steuern.«
»Robo-Avatare«, wiederholte ich und starrte die einförmige, schwarze Kiste an. »Die Kardinäle.«
Marin nickte. »Die Kardinäle. Squalors Avatare, allesamt so gestaltet, dass sie sein perfektes Ebenbild darstellen, ferngesteuert von Squalors Verstand, der sich hier in zahlreichen mehrfach-redundanten Speichereinheiten befindet. Das war Squalors Lösung für sein eigenes Problem, und genau das planen die Staatssekretäre auch für den SSD, sobald sie die Erfolgsrate über … ach, ungefähr zwanzig Prozent steigern können, während die anderen achtzig Prozent eben nur noch vor sich hin vegetieren. Besser brauchen sie es gar nicht, schließlich ist es einfach und sehr billig, diese gottverdammten Avatare zu bauen. Ach verdammt, auf diese Weise könnte man eine echte Ein-Mann-Polizeitruppe aufstellen!«
Von der Vorstellung, alle System-Bullen wären perfekte Roboter, ferngesteuert und augenblicklich ersetzt, sollten sie irgendeinen Schaden nehmen, wurde mir übel – mein Magen krampfte sich immer weiter zusammen und überschlug sich dabei auch noch.
Belling blickte die schwarze Kiste an. »Das ist Squalor?«
Marin nickte. »Genau.«
Es wurde lautstark gegen die Tür gehämmert. Marin rührte sich nicht. »Wir müssen uns beeilen, Gentlemen. Die Kardinäle versuchen bereits, diesen Raum zu betreten. Das bedeutet, Squalor ist zu dem Schluss gekommen, wir wollten ihm Schaden zufügen. Diese Überlegung negiert jegliche Autorität meinerseits an diesem Ort – das ist einprogrammiert, verstehen Sie? –, und seine Avatare handeln jetzt, um ihn zu beschützen. Bitte fahren Sie fort.«
Belling nickte und legte die Waffe an. Ich trat vor und stieß seinen Arm zur Seite. »Jetzt warten Sie aber mal, verdammt!«, sagte ich und starrte Marin an. »Sie wollen, dass dieser verdammten Schachtel hier das Licht ausgeknipst wird? Das ist alles? Warum zum Teufel brauchen Sie uns denn dafür? Warum machen Sie das denn nicht selbst?«
Marin lächelte, richtete den Blick zur Decke und griff nach seiner Sonnenbrille. Wie ein Blitz durchzuckte mich furchtbares Entsetzen.
»Weil, Mr Cates«, sagte er und nahm die Brille ab, »ich darauf programmiert bin, das nicht zu tun.«
Winzige Kameras saßen mitten in seinem lächelnden Gesicht, wie mechanische Käfer.
»Die Augen«, sagte Marin und seufzte. »Die Augen sind am schwersten. Man kann eine Maschine bemerkenswert menschlich wirken lassen, aber das mit den Augen klappt nie richtig. Von denen lässt sich niemand täuschen.«
Kieth starrte Marin fasziniert an. »Sie sind ein … Mönch?«
»Eigentlich ein Avatar, Mr Kieth«, erwiderte Marin. »Einer der vierunddreißig ›Richard Marins‹, die derzeit zum System gehören. Eigentlich gab es fünfunddreißig, aber eines meiner Ichs wurde gestern in Eriwan bei einem Bombenattentat zerstört. Es wird ein paar Tage dauern, einen Ersatz zu bekommen.«
Er wartete einige Momente ab, blickte uns der Reihe nach an. Ich hatte den Eindruck, der Scheißkerl genoss den Effekt, den er auf uns hatte.
»Ich war ein Prototyp – für den zuvor erwähnten Voll-Avatar-SSD. Als System-Cop war ich eine ziemliche Enttäuschung, also haben die sich gedacht, es wäre kein allzu großer Verlust, wenn ich bei der Umwandlung zermatscht würde, so wie fast alle anderen Kandidaten auch. Die haben mich digitalisiert, haben in die Grundprogrammierung noch Einschränkungen eingebaut, um mich zu steuern – Befehle befolgen, niemals die Regeln brechen, die Staatssekretäre beschützen und so weiter –, und dann haben sie einen großen Fehler gemacht: Sie haben mir die Aufgabe übertragen, Squalor und die Cyber-Kirche auszuschalten, weil sie sich allmählich Sorgen machten, diese
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