Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
Fluch, der auf Ihnen lastet, Mr Muller. Der Mangel an Zeit. Alles erfordert Zeit, und Sie haben davon doch nur so wenig. Das führt zu der grundlegenden Frage, die die Cyber-Kirche immer wieder anspricht:
Wie sollen Sie erlöst werden, wenn Sie keine Zeit haben? Wie können Sie in der kurzen Zeitspanne, die Ihnen bemessen ist, nur jemals gegen Ihre Sünden ankämpfen?«
Mittlerweile war es im ›Pickering’s‹ fast totenstill geworden; die Anwesenden mühten sich gar nicht mehr, möglichst cool zu wirken, sondern wandten sich jetzt allesamt uns zu, um die Show auch wirklich mitzubekommen. Als der Mönch sich nun bewegte, war das leise Summen und Surren winziger Motoren und Hydrauliken zu hören.
»Betrachten Sie die technologischen Fortschritte der menschlichen Spezies in den vergangenen Jahrhunderten – Quantencomputer, ein gewisses Maß an Teleportation, Gentechnik. Wir sind als Spezies dafür ausersehen, die Geheimnisse des Multiversums auszuloten. Es ist Gottes Plan, dass wir das tun, dass wir die Kräfte der Natur erforschen und bändigen. Warum wurden wir in genau dieser Art geschaffen? Es ist uns bestimmt, die Erlösung durch unsere Weiterentwicklung zu erlangen. Aber Computer können die Erlösung nicht berechnen. Und wir können die Erlösung nicht in diesen Raum teleportieren. Wir können die Erlösung nicht durch Spleißen in unsere Gene einbringen. Die Erlösung muss errungen werden, Mr Muller. Aber nur so wenigen von uns gelingt dies! Kennen Sie jemanden, der errettet wurde?« Einen Moment lang starrte der Mönch weiterhin Muller an, dann drehte er sich um und betrachtete der Reihe nach die anderen Gäste. »Sie vielleicht? Oder Sie? Irgendjemand hier?«
Der Mönch trat einen winzigen Schritt vor. In der völligen Stille der Kneipe hörte man das Rascheln seiner Kutte. »Natürlich nicht. Sie alle haben nicht lange genug gelebt. Sie müssen arbeiten, Sie müssen Yen verdienen, Sie müssen ein Leben führen. Sie müssen ruhen. Sie müssen essen. Sie müssen sich ankleiden und sich erleichtern, Sie müssen kämpfen und lieben und sich abmühen, abmühen, abmühen.« In perfekt kalibrierten Wellen hob der Mönch nach und nach die Stimme an; die Bass-Schwingungen wurden dabei elektronisch verstärkt und füllten den ganzen Raum. »Ich verkörpere den ersten Schritt in die richtige Richtung. Gott hat es für uns so geplant. Das ist der Weg zur Erlösung.«
Plötzlich wurde seine Stimme ungleich leiser, sodass man sie gerade noch verstehen konnte. »Mir bleibt endlich genug Zeit. Ich bin unsterblich. Die Zeit vermag mir nichts anzuhaben, ebenso wenig Hunger, Lethargie, Apathie. Nur durch die Ewigkeit könnt ihr errettet werden, meine Freunde. Die Erlösung lässt sich nicht innerhalb eines einzigen, kärglichen Jahrhunderts erreichen. Sie, Mr Muller, werden vielleicht neunzig oder einhundert Jahre alt werden. Eine Frau in Minsk ist jetzt 126Jahre alt und arbeitet immer noch als Funkerin für die System-Polizei. Einhundertsechsundzwanzig armselige Jahre reichen nicht aus. Fünfhunderlsechsundzwanzig Jahre reichen nicht. Die Erlösung zu erringen ist nicht leicht. Die Erlösung zu erringen ist unendlich schwierig, das schwierigste, komplizierteste Rätsel, das jemals ersonnen wurde. Nach eintausend Jahren werden wir vielleicht in der Lage sein, das erste Wort auch nur der Fragestellung zu enträtseln. Nach einer Million Jahren können wir uns vielleicht daran begeben, nach der Antwort zu suchen. Und wenn das Universum in sich selbst zusammenfällt, wenn alle Welten, die im All verstreut sind, von hungrigen Sonnen verschlungen sind, dann werden wir vielleicht an der Schwelle des Triumphes stehen und uns den Heerscharen der Engel anschließen können. Ich kann nur darauf hoffen, dass wir nicht zu langsam dabei sind, die Wahrheit zu erkennen, sodass die Zeit wirklich reicht.«
Der Mönch hielt inne und blickte sich im Raum um. Niemand hatte sich gerührt. Kein einziger. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas Gewaltiges, Unsichtbares springe mir gerade eben in den Rücken.
»Doch ich bin mir sicher, Mr Muller, dass Ihre winzige Lebensspanne nicht reichen wird. In dieser kurzen Zeit werden Sie kaum begreifen, wie notwendiges ist, die Erlösung zu erlangen. Und wenn das schließlich geschehen ist, dann werden Sie alt und gebrechlich sein, und wenn Sie dann begreifen, dass es tatsächlich eine Frage gibt, die nach einer Antwort verlangt – dann wird es zu spät sein. Die Zeit wird Ihnen nicht reichen. Es sei
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