Sommer der Entscheidung
dass sie nirgendwo wirklich willkommen war. Helen war außer sich, als sie erfuhr, dass ihre Tochter schwanger war und geheiratet hatte. Seitdem hatten sie immer nur kurz miteinander gesprochen, und Helen hatte sie ständig kritisiert. Sie hatte bisher Tessa nur zwei Mal gesehen und war von ihrer Enkeltochter nicht sehr beeindruckt.
Billy wäre wahrscheinlich noch weniger davon begeistert, wenn sie zu ihm zöge. Er teilte sich eine winzige Wohnung mit drei anderen Studenten. Dort war kein Platz für eine Ehefrau und sein Kind, umso weniger, da er sich weder die Ehefrau noch das Kind ausgesucht hatte.
„Ich möchte alles versuchen, damit unsere Ehe gut wird“, antwortete Nancy. „Das ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe, damit es geht.“
„Mrs. Whitlock möchte nicht, dass Ihre Ehe gut wird.“ Hattie sprach leise, obwohl Caroline fortgegangen war. „Deshalb behandelt sie Sie so.“
In ihrem Herzen wusste Nancy, dass das stimmte, aber damit so konfrontiert zu werden, erschreckte sie. „Wenn ich gehe, werden sie dann versuchen, Tessa zu behalten?“
Hattie zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht.“
„Was glauben Sie?“
„Wenn es ein Junge wäre, wäre ich mir sicher. Aber ein Mädchen?“ Hattie machte eine fragende Handbewegung.
„Bei einer Scheidung bekommt die Mutter doch meistens das Sorgerecht, nicht wahr?“
„Mr. Whitlock kennt viele Richter. Er spielt Tennis und Golf mit ihnen.“
Nancy spürte, wie der Rest Selbstbewusstsein, den sie noch hatte, sie verließ. „Was würden Sie tun?“
„Herzchen, das sind keine Probleme, die eine farbige Frau hat. Kein Richter in Virginia würde sich darum kümmern, wer meine Kinder bekommt.“
Nancy tat es leid, dass es wirklich so war. Aber im Moment standen ihre eigenen Probleme im Vordergrund, und Bürgerrechte mussten an die zweite Stelle treten.
Tessa gab sich derweil Mühe, fröhlich den Rest ihres Biskuits zu zerkrümeln und auf den Boden zu werfen. Nancy hob sie aus dem Stuhl. Dann zog sie ihr einen Mantel und Schuhe an und ging mit ihr im Kinderwagen ein wenig in der riesigen Anlage spazieren.
Sie hielten vor einem Schlitten, der so groß war wie ein echter. Oben saß eine Puppe darauf, die wie ein Weihnachtsmann aussah und die acht ausgestopften Rentiere lenkte, die den Schlitten zogen. Die Arbeit des Tierpräparators hatte ihm wahrscheinlich sein Einkommen eines ganzen Jahres gesichert. Der Weihnachtsmann selbst sah so echt aus, dass sogar Nancy stutzte. Tessa liebte ihn und die Tiere, und versuchte, sich aus der Karre zu befreien, um hinrobben zu können.
Die Vorfahren der Whitlocks hatten früher einmal weiter unten am Fluss auf einer florierenden Tabakplantage gelebt. Obwohl das alte Haus in Windsor Farms verhältnismäßig bescheiden war, wirkte es immer noch sehr imposant. Nancyhatte sich viele Stunden, in denen sie sich langweilte, damit beschäftigt, was sie alles verändern würde, wenn das Haus ihr gehörte. Als Erstes auf ihrer Liste stand die Weihnachtsdekoration. Danach würde sie sich das etepetete Schlafzimmer in Weiß und Gold vornehmen, in dem sie wie eine Gefangene gehalten wurde.
Sie kam aus einer armen Familie, das stimmte, aber sie war nicht blöd. Vielleicht brauchte sie ein wenig Hilfestellung – manchmal war sie sogar dankbar für einige der Dinge, die sie von Caroline gelernt hatte –, aber sie war sich sicher, dass sie eines Tages ihren Platz in der Richmonder High Society an Billys Seite einnehmen könnte. Ihr Bedürfnis, eine Heimat für sich zu finden, war so stark, dass ihr nichts im Weg stehen könnte, wenn sie nur eine Gelegenheit bekäme, sich zu beweisen. Aber diese Gelegenheit schien mit jedem Tag unwahrscheinlicher zu werden.
Als sie zurück im Haus und oben im Schlafzimmer waren, fing Tessa wieder an zu quengeln, und Nancy wusste, dass ihre Tochter einen Mittagsschlaf brauchte. Aber wenn sie jetzt schlief, dann würde sie vielleicht nicht noch einmal ein Nickerchen machen, so wie es Caroline gerne gehabt hätte.
Nancy spürte, dass ihre Handflächen zu schwitzen begannen, als sie sich überlegte, was sie tun sollte, obgleich es keine wichtige Entscheidung war. Sie wollte nicht, dass sich Caroline noch mehr aufregte, aber war Tessas Bedürfnis nicht wichtiger? Das Baby hatte in der letzten Nacht wenig geschlafen, und jetzt musste es den Schlaf nachholen. Jetzt, nicht irgendwann.
Tessa machte Nancys Grübeleien überflüssig, als sie schließlich in den Armen ihrer Mutter einschlief.
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