Sommer der Liebe
jeder Zeile, neckend, anarchisch, aber informativ.
Später an diesem Abend, nach einem gemütlichen, aber eiligen Essen mit ihren Eltern, schaffte Sian Platz auf dem Schreibtisch in ihrem alten Zimmer und fing an zu zeichnen.
Sie hatte keine lebenden Modelle, deshalb musste sie aus dem Gedächtnis zeichnen. Gus’ Hände, die gerade mit einem Messer ein Stück Birkenrinde abschabten, um daraus Zunder zu machen; die Hütte mit ihrer dicken Laubschicht; Gus, wie er schnitzte und dabei so feine Holzspäne schuf, dass sie wie Geschenkpapierschleifen aussahen, und wie er mit der Axt über dem Kopf dastand.
Als ihr nichts mehr einfiel, überflog Sian noch einmal die ersten Seiten seines Buches und wählte Szenen aus, die sich für Zeichnungen eigneten. Sie lächelte bei der Arbeit, und ihr Enthusiasmus wuchs, während sie die beschriebenen Szenen mit Bleistiftstrichen und Schattierungen zum Leben erweckte. Schließlich fügte Sian noch ein Bild von Rory hinzu, wie er mit einem dicken Ast in der Hand umherrannte. Sie wollte zeigen, dass solche Unternehmungen im Freien Kindern jeden Alters Spaß machten.
Als Sian schließlich ihre Zeichenutensilien zusammenräumte, war sie sicher, einige ihrer besten Arbeiten geschaffen zu haben, genug, um selbst die anspruchsvollsten Verlagsmitarbeiter zufriedenzustellen. Sie schloss den Skizzenblock, stand auf und streckte sich. Dann ging sie runter, um vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee mit ihren Eltern zu trinken.
24
Die Empfangsdame war sehr freundlich. »Es tut mir sehr leid, aber Sie sind hier falsch. Das hier ist der Hauptsitz. Emmanuel and Green finden Sie in der Park Street.«
Sian hätte am liebsten geweint. Sie war pünktlich losgefahren, die Oyster-Fahrkarte ihrer Mutter in der einen und den »London von A bis Z« -Stadtplan ihres Vaters in der anderen Tasche, und alles hätte reibungslos klappen müssen. Leider war es in der U-Bahn chaotisch zugegangen, weil es auf einer Linie einen Stromausfall gegeben hatte. Und nun war Sian spät dran. Zumindest nahm sie das an – sie wusste ja nicht wirklich, wann das Treffen stattfand.
»Wie komme ich am schnellsten dorthin?«
»Mit dem Fahrrad, aber Sie können auch ein Taxi nehmen. Ich rufe dort an und gebe Bescheid, dass Sie auf dem Weg sind, wenn Sie wollen. Mit wem sind Sie denn verabredet?«
»Ach, lassen Sie nur! Vielen Dank!«, rief Sian und eilte aus dem Gebäude.
Im Taxi versuchte sie, sich zu beruhigen und nicht über die Taxiuhr nachzudenken, die erschreckend schnell tickte. Zum Glück hatte ihr Vater Sian ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt, sechzig Pfund, wie sie nun feststellte. Als Sian sich ihrem Ziel näherte, wurde ihr außerdem klar, dass sie die Gegend kannte.
Endlich hielt das Taxi an. »Wir sind da«, verkündete der Fahrer.
Sian zahlte und sprang aus dem Wagen, dann rannte sie die Treppen zum Eingang hinauf.
Dieses Verlagsgebäude war viel kleiner als das vorherige, was Sian als gutes Zeichen nahm. Hier würden gewiss nicht so viele Meetings stattfinden; sie hatte eine Chance, Gus aufzuspüren.
Einen Moment später stand sie vor einer Glastür. Sian musste in ein Mikrofon sprechen, um ihr Anliegen vorzutragen. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, ruhig und professionell zu klingen.
»Ich begleite Angus Berresford, den Sie sicher ebenfalls eingelassen haben, und ich bin möglicherweise ein wenig zu spät …«
Die Tür summte, und Sian warf sich dagegen und schwang sie auf. »Hallo!« Sie hatte eigentlich gehofft, Gus vielleicht noch im Foyer anzutreffen. »Ich bin sogar noch später dran, als ich dachte. Hat das Meeting schon angefangen?«
Die Frau am Empfang sah ein wenig irritiert aus und zupfte an ihrem Telefon-Headset. »Äh … ja, das hat es«, sagte sie.
Erleichtert registrierte Sian, dass die Empfangsdame nicht fragte: »Welches Meeting?«
»Könnten Sie mir sagen, wo ich hinmuss?«
Eigentlich wäre es ihr lieb gewesen, wenn die Frau sie an die Hand genommen und zu dem Meetingraum begleitet hätte, aber in diesem Moment klingelte das Telefon. Die Empfangsdame winkte mit der Hand. »Zweiter Stock, dritte Tür rechts. Äh … der Fahrstuhl ist da vorn«, hielt die Dame sie auf, als Sian in die falsche Richtung laufen wollte.
Wenig später stolperte Sian aus dem Aufzug und fand sich in einem Flur mit sehr vielen Türen wieder. Was hatte die Empfangsdame gesagt? Die dritte Tür auf der rechten Seite? Sian zählte eins, zwei, drei, klopfte mutig an und trat ein: Es war die
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