Sommer in Maine: Roman (German Edition)
seinerseits reichlich Grund hätte, auf Kathleen sauer zu sein. Sie hatte das schwer verdiente Geld ihres Vaters aus dem Fenster geschmissen und sich nach Kalifornien zum anderen Ende des Kontinents davongemacht. Nur die Sorge um die über siebzigjährige Mutter hatte sie ihnen überlassen. Selbst als sie sich noch als religiös bezeichnete, war Kathleen nicht mehr als eine Teilzeitkatholikin gewesen. Vielleicht fühlte sie sich deshalb ihrer Familie nicht verpflichtet und entwickelte offenbar keinerlei Schuldgefühle.
Pats andere Schwester, Clare, war auch nicht viel besser, und sie wohnte nur ein paar Meilen entfernt in Jamaica Plain. Ihr Mann Joe konnte Alice nicht ausstehen, und Clare hatte sich auf seine Seite geschlagen. Sie besuchte ihre Mutter vielleicht einmal im Monat, und Ann Marie musste sich dann jedes Mal ewig von Alice anhören, was für zauberhafte Rosen Clare ihr mitgebracht habe, und dass ihre Jüngste sich die Flasche Cabernet fünfzig Dollar habe kosten lassen (Clare hatte wohl vergessen, das Preisschild zu entfernen). Als könnten solche läppischen Gesten die Vernachlässigung der vergangenen Wochen wiedergutmachen.
Ann Marie gegenüber sagte Clare ständig, dass sie sich mehr Zeit für ihre Mutter wünsche. Clare gehörte zu der Art von Leuten, die so viel Zeit damit verbrachten, allen zu erzählen, wie wenig Zeit sie hatten, dass man es für ihre Hauptbeschäftigung halten musste. Dann versuch das Ganze doch mal mit drei Kindern , wollte Ann Marie dann sagen. Einmal die Woche kam eine Putzfrau zu Clare, und als Ryan klein war, hatten sie ein Kindermädchen. Ann Marie wäre es nicht im Traum eingefallen, jemanden dafür zu bezahlen, ihre Arbeit zu machen. Das Geld hätten sie schon gehabt, aber die Mutter war in der Sorge um die Kinder und das Heim ganz und gar unersetzlich, davon war Ann Marie überzeugt.
Meistens blieb die Sorge um Alice an Ann Marie hängen, obwohl sie sich auch um ihre eigene Mutter kümmern musste. Ann Marie war siebenundzwanzig, als ihr Vater starb. Aber irgendwie galt das als unvergleichbar gegenüber dem schweren Verlust der Kellehergeschwister, dabei hatten die drei beim Tod von Daniel Senior längst die Vierzig überschritten. Sein Tod hatte auch Ann Marie getroffen. Er war so ein guter Mensch gewesen, so freundlich und liebevoll zu ihr und jedermann. Er hatte die Familie zusammengehalten. Aber Ann Marie war nach Daniel Seniors Tod schnell klar gewesen, dass ihre Schwägerinnen und die Schwiegermutter von ihr erwarteten, dass sie nicht trauerte, sondern funktionierte. Dafür durfte sie sich auch ganz allein um die Beerdigung kümmern.
Am meisten störte Ann Marie an den Kellehers, dass sie sich zwar auf sie stützten, sie aber im Gegenzug nicht einbezogen oder auch nur Danke sagten. Sie war überzeugt, dass ihre Schwägerinnen, denen sie sich, um ehrlich zu sein, in vielerlei Hinsicht überlegen fühlte, sie nach wie vor als das unterprivilegierte Mädchen sahen, das ihren Bruder mit Geschick in die Ehe gelockt hatte.
Es half ihr wenig, dass Pat auf ihrer Seite war: Das war eine Sache zwischen Frauen. Alice war vielleicht eine Art Verbündete, aber Clare und Kathleen behandelten sie meistens schlecht. Vielleicht lag das daran, dass Ann Marie die beiden daran erinnerte, wie wenig sie für Alice und die Familie taten. Zu Feierlichkeiten steuerte Clare eine Beilage bei – eine! – und verbrachte den Rest des Abends damit, sich über Komplikationen bei der Produktion und dem Transport des mickrigen Gerichts zu beschweren, bis ihr schließlich auch der letzte zu den faden Süßkartoffeln oder dem verkochten Bohnenauflauf gratulierte.
Kathleen kam mit leeren Händen, sie musste schließlich extra anreisen. (War es einer Reisenden denn nicht möglich, auf dem Weg eine Flasche Wein oder etwas Brot und Käse zu besorgen?) Vor ihrem Umzug nach Kalifornien hatte sie zu Weihnachten ihre beiden sabbernden Schäferhunde mitgebracht. Ann Marie musste die Tiere auch in ihrer Küche ertragen, wo sie die beiden einmal beim Abschlecken der Bratenreste erwischte.
Die Hunde mussten mittlerweile uralt sein. Im vorigen Jahr habe Kathleen um die zehntausend Dollar für eine Hunde-Chemo ausgegeben, hatte Alice erzählt. Was für eine Geldverschwendung. Sie hatte im Süden Bostons Cousins, deren Familien sie schon bei weit weniger teuren Behandlungen ohne zu zögern einschläfern lassen würden.
Wenn Pats älteste Schwester jetzt zu den Feiertagen nach Hause kam, predigte sie Ann
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