Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sie sich, was ihr die Selbstlosigkeit gebracht hatte. Sie hatte freiwillig für jedermann den Chauffeur, die Köchin, das Hausmädchen und die persönliche Ratgeberin gespielt. Und was war aus ihren Kindern geworden? Aber jedes Mal, wenn es ihr reichte und sie sich mal Zeit für sich nehmen wollte, kam etwas dazwischen: Alice musste zum Augenarzt oder Patty brauchte jemanden für die Kinder, um im Büro noch etwas fertig zu machen. Wie konnte Ann Marie ihnen das abschlagen?
Sie nahm die Ausfahrt 10 und fuhr auf einer kleineren Straße weiter. Nach wenigen Minuten sah sie das gelbe Banner an einem schlichten Flachbau direkt vor ihr: Wellbright Miniaturenmesse . Sie blickte zum Beifahrersitz, auf dem der Umschlag mit den Fotos lag: Seiten-, Vorder- und Rückansicht, damit die feine Zierleiste an der Dachkante ihrer viktorianischen Villa gut zur Geltung kam, und eine Nahaufnahme jedes Zimmers. Man hätte die Bilder für Fotos aus Schöner Wohnen halten können.
Und wenn sie doch gewann? Sie hätte es nie zugegeben, aber insgeheim sah sie für sich eine Chance.
Bei dem Gedanken wurde Ann Marie so aufgeregt, dass sie über sich selbst die Augen verdrehte. Jetzt schob sie diese unsinnigen Gedanken beiseite und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.
Alice
A lice warf den Pappteller in den Müll und die Thunfischdose in die Spüle. Sie ließ sie mit heißem Wasser volllaufen, gab Seife dazu, wartete kurz und wusch die Dose aus.
Vor vier Wochen, Anfang Mai, war sie mit Patrick und Ann Marie hierhergefahren. Pat hatte die Bretter von den Fenstern genommen, den Rasen gemäht und die Rauchmelder in Ordnung gebracht, die aus allen Ecken des Hauses in einem weinerlichen Chor fiepten. Alice und Ann Marie hatten sich routiniert erst durch das alte Sommerhäuschen, dann den Neubau nebenan gearbeitet und die Tücher von den Möbeln entfernt, die Teppiche ausgerollt, die Lampen in die Steckdosen gesteckt, die Oberflächen abgestaubt und die unzähligen toten Fliegen und Wespen weggesaugt, die immer irgendwie reinkamen, aber anscheinend nie hinausfanden.
In der Außendusche entdeckte sie ein riesengroßes Spinnennetz. Es war fast einen Meter breit und reichte von einer Wand zur anderen. Es tat Alice beinahe leid, es mit dem Besenstiel zu zerreißen und wegzuspülen. Wer es gesponnen hatte, hatte hier monatelang ein kleines Königreich besessen. Und dann, plötzlich, war alles weg.
Den Rest des Mai war sie, abgesehen von den Wochenendbesuchen von Ann Marie und Pat, alleine. Sie bereitete weiterhin den Neubau und das Sommerhaus für die Kinder vor, sortierte aber auch eine Menge Sachen aus. Nachdem sie das überarbeitete Testament unterschrieben hatte, war ihr klar geworden, dass es vielleicht nicht mehr lange dauern würde, bis das Haus der Kirche gehörte. Also warf sie säckeweise altes Bettzeug, Badeanzüge und kaputte Badelatschen weg, die sich irgendwie auf den Dachboden verirrt hatten. Im Schlafzimmer kramte sie Decken und Kleidungsstücke aus den Schubladen. Sie sammelte hunderte von Muscheln, vom Meer abgestumpfte Scherben, und einige Seeigel und Seesterne ein und brachte sie bei Sonnenuntergang zum Strand zurück. Daniels Sammlung von Thrillern und politischen Biografien, deren Buchrücken das durchs Schlafzimmerfenster strahlende Sonnenlicht gebleicht hatte, gab sie der Bibliothek in Ogunquit. Im Neubau räumte sie auch Gläser und Geschirr weg, aber im Sommerhaus durfte nicht zu viel auf einmal fehlen. Die Kinder könnten sonst unangenehme Fragen stellen.
Kathleens Tochter Maggie würde als erste eintreffen, zusammen mit ihrem Freund Gabe, dem Fotografen.
Maggie war die Künstlerin der Familie. Alice dachte manchmal, dass ihr Leben dem Maggies geähnelt hätte, wenn sie ein oder zwei Generationen später geboren wäre. Für Frauen hing alles vom Timing ab: Wann man geboren wurde, bestimmte das ganze Leben. Maggie hatte am Kenyon College nur Einser gehabt, und mit dreißig eine Kurzgeschichtensammlung über vertrackte Liebesbeziehungen veröffentlicht.
»Ein sensationelles Buch«, wiederholte Kathleen ständig.
Maggie hatte einen guten Schreibstil, das war unleugbar, und Alice hatte mit dem Buch ihrer Enkelin gegenüber den Mitarbeitern ihrer kleinen Bibliothek angegeben. Aber es war unmöglich, die Erzählungen ihrer Enkelin zu lesen, ohne nach sich, Kathleen und Darstellungen ihrer Ehen zu suchen. Von Kathleen wusste sie, dass Maggie augenblicklich an einem Roman arbeitete. Würde sie sich in Maine wie ein
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