Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Greifvogel über Alices Erinnerungen hermachen? Wenn Maggie ihr Fragen stellte, fühlte es sich an, als wolle sie Alices Leben katalogisieren und aus jedem Herzschmerz, jeder Beziehung und jeder Kindheitserinnerung ein etikettiertes Exponat machen. Teil eines gelebten Lebens, das jetzt nur noch seziert werden musste.
Aber Gabe war einer der wenigen Sommergäste, auf die Alice sich freute. Sie war sogar bereit, darüber hinwegzusehen, dass Maggie und er im Sommerhaus in einem Bett schliefen. (Ann Maries Kinder hatten den Anstand, vor der Ehe in getrennten Betten zu schlafen, aber das war von Kathleens Brut natürlich nicht zu erwarten.)
Maggies verwöhnte Unifreunde, die früher manchmal nach Maine mitgekommen waren, hatten sich benommen, als wären sie in einem Hotel mit der Wirtin Alice gleich nebenan. Kein einziges Mal hatten sie Alice ins alte Sommerhaus eingeladen, und wenn Maggie aus Pflichtgefühl ihren morgendlichen Besuch abstattete, listete Alice die fiktiven Erledigungen auf, die auf sie warteten. Maggie sollte sie bloß nicht bemitleiden.
Aber Gabe war anders. Er hatte mit ihr herumgealbert, ihr immer wieder für die Einladung gedankt und mit ihr bis spät in die Nacht alte Lieder gesunden. Er brachte ihr die Zeiten in Erinnerung, als ihre und Daniels Brüder noch an den langen Wochenenden ins Sommerhaus gekommen waren, um zu singen, zu trinken und fröhlich zu sein.
Und wenn sie ehrlich war mochte sie ihn am allermeisten wegen des Abends, an dem sie zu zweit zwei Flaschen Cabernet geleert hatten. Als Maggie gerade im Bad war, hatte er ihre Hand genommen und gesagt: »Wissen Sie eigentlich, wie schön Sie sind? Ich habe noch nie eine so atemberaubend schöne Frau gesehen. Ich möchte Sie fotografieren.«
Er flirtete mit ihr! Das war seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Ihr Herz raste, und als sie die Toilettenspülung hörte, war sie ein wenig enttäuscht. Er fotografierte sie am darauffolgenden Nachmittag, als Maggie gerade am Strand war. Später schickte er ihr einen Abzug, und sie weinte beim Anblick ihres runzeligen Gesichts: Verdammt, sah sie alt aus. Als er sie im strahlenden Sonnenschein abgelichtet hatte, hatte sie sich wie achtzehn gefühlt.
Die letzten paar Monate waren so trüb gewesen. Vielleicht würde Gabe sie ja aufmuntern.
Gabe war äußerst charmant, aber Alice hatte Zweifel an der Beziehung: Maggie suchte sich die falschen Männer aus, genau wie ihre Mutter. Von Kathleen wusste Alice, dass Maggie irgendwann eine Familie gründen wolle, aber Gabe war ganz bestimmt kein Kandidat für die Ehe. Kathleen hatte auch gesagt, er trinke zu viel, obwohl sie das von fast jedem sagte. Außerdem stritten Maggie und er sich angeblich ununterbrochen. »Er erinnert mich an Paul«, waren Kathleens Worte gewesen, und der Name ihres Exmannes stand für alles, was schlecht an Männern war.
Maggie und Gabe würden dieser Tage in Maine eintreffen, hatte Kathleen gesagt.
»Aber wann genau?«, hatte Alice ihre Tochter ein paar Tage zuvor am Telefon gefragt.
»Das hängt wahrscheinlich von Gabes Arbeit ab. Immer locker bleiben, Mama«, sagte Kathleen in diesem übertrieben gelassenen Ton, der Alices Blutdruck sofort um zwanzig Stellen in die Höhe trieb.
»Ich wüsste es einfach gern ein wenig im Voraus, damit ich das Sommerhaus vorbereiten kann, das ist alles«, sagte Alice.
»Dann ruf Maggie auf dem Handy an und sag ihr das«, sagte Kathleen.
»Sie ist deine Tochter«, sagte Alice.
»Stimmt. Und deine Enkelin.«
»Herrgott nochmal. Gut, dann lassen wir’s«, sagte Alice.
»Gerne«, war Kathleens knappe Antwort.
Das war’s gewesen. Typisch Kathleen.
Im vergangenen Winter war Kathleen zu Weihnachten von einem Aufenthalt in einem Heilzentrum zurückgekehrt, um Alice mitzuteilen, dass eine Hypnose schmerzhafte Kindheitserinnerungen geweckt habe: Alice habe Kathleen einmal als Strafe dafür, dass sie Kekse stibitzt hatte und nicht mehr in den Badeanzug passte, unter Hausarrest gestellt, während die anderen Kinder am Strand spielten. Und weil sie trotzig gewesen war, habe Alice sie einmal auf einem Jahrmarkt zurückgelassen und erst Stunden später mit dreck- und tränenverschmiertem Gesicht abgeholt.
»Du hast mich emotional und verbal missbraucht«, hatte Kathleen gesagt.
Alice wollte sie ohrfeigen, wie es ihr eigener Vater getan hätte, wenn jemand so mit ihm gesprochen hätte.
»Halt den Mund!«, sagte sie schließlich.
»Siehst du? Du tust es schon wieder. Warum kannst du es nicht
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