Sommer unter dem Maulbeerbaum
ein Supermann. Er konnte alles. Wenn er unterwegs war, las er sehr viel, hauptsächlich Sachbücher, daher wusste er eine ganze Menge darüber, wie die Welt funktioniert. Ich war erst fünf, aber vielleicht weil ich die meiste Zeit über sozusagen der »Mann im Haus- war, war ich ein altkluges Kind und hatte viele Fragen. Mein Vater hat mich nie abgewimmelt, so wie ich es bei anderen Vätern erlebte.«
Matt griff in den Karton und zog ein Foto heraus. Es war eins von diesen brieftaschengroßen, sichtbar gestellten Porträts, von denen die Jahrbücher der High Schools voll sind.
Bailey nahm das Bild in die Hand und sah einem jüngeren, schmäleren Matt in die Augen. »Ich kann dich in ihm wiedererkennen. Er ist ein gut aussehender Mann.«
»War. Jetzt ist er tot.«
Bailey wollte etwas fragen, doch sie hatte das Gefühl, wenn sie nichts sagte, würde Matt ihr eher von sich erzählen. Er reichte ihr ein anderes Foto. Es zeigte sechs Jungen vor einem Auto mit den abgerundeten Kotflügeln der Fünfzigerjahre.
»Das sind ...«, begann er.
»Ich kann mir vorstellen, wer das ist, aber lass mich mal sehen, ob ich erraten kann, wer wer ist«, sagte Bailey und hielt das Foto näher an die Stehlampe. »Der hier in dem Pullover mit dem Schulabzeichen ist dein Vater, das ist klar.«
»Richtig«, bestätigte Matt lächelnd.
»Und das hier muss Rodney sein ... Roddy. Du lieber Himmel! Der war ja wirklich schön.«
»Ja. Gleich nach der High School ging er für ein paar Jahre nach Hollywood, aber er konnte nicht spielen. Oder vielleicht hatte er auch zu viel Konkurrenz. Jedenfalls kam er wieder hierher zurück.«
»Genau wie Frank«, sagte Bailey.
»Hast du endlich das Buch auf deinem Nachttisch gelesen? Das, was du von Violet bekommen hast?«
»Woher ...« Sie hob die Hand. »Nein, sag mir nicht, woher du weißt, was sich in meinem Schlafzimmer befindet und wer mir was gegeben hat. Und nein, ich habe das Buch noch nicht gelesen. Ich habe den Nachmittag in der Bibliothek in Ridgeway verbracht und die Zeitungsberichte gelesen.«
»Ah.«
»Was soll das denn bedeuten?«
»Es bedeutet, dass du nicht die ganze Geschichte kennst, nicht, wenn du nur gelesen hast, was in der Zeitung stand.« Er wies mit dem Kopf auf das Foto in ihrer Hand. »Also, mach weiter. Sag mir, wer auf diesem Bild wer ist.«
»Frank muss der Dünne da am Rand sein. Ist das eine Zigarette in seiner Hand?«
»Bist du sicher, dass es nicht Taddy ist?«
»Nein, Taddy ist der Große auf der anderen Seite, der so verängstigt dreinblickt.«
»Du bist gar nicht so schlecht bei so was, stimmt’s?«
»Und Burgess ist der Kräftige, der vorne hockt.« Sie hob das Foto höher und sah sich den jungen Mann neben Kyle genauer an. Harper Kirkland war klein, dünn und so goldig wie ein Cherub an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Er erinnerte sie an jemanden, aber sie kam nicht darauf, an wen. »Was ist aus ihnen geworden?«
Matt nahm ihr das Foto aus der Hand und legte es neben das erste auf den Tisch. In dem Karton lagen zusammengefaltete Stücke Papier. Er bewahrte jedes Foto in einem eigenen kleinen Umschlag auf, damit es nicht verkratzte.
»Burgess hat jahrelang die Holzhandlung seines Va-ters geführt, ist dann Pleite gegangen und starb bei einem Flugzeugabsturz. Ich glaube, das war 1982 oder 1983. Rodney hat ein paarmal geheiratet und jede Menge Kinder in die Welt gesetzt. Taddy hat Naturwissenschaften an der High School in Calburn unterrichtet, bis sie geschlossen wurde. Zwei Jahre darauf ist er dann an einem Herzinfarkt gestorben. Er hat nie geheiratet. Über Frank und meinen Vater weißt du ja Bescheid.«
»Was ist mit Harper?«
Matt zögerte mit der Antwort. »Er war eins der ersten Aids-Opfer in Amerika.«
»Ich verstehe«, sagte sie, dann beugte sie sich vor und schaute sich das Foto noch einmal an. »Sal Mineo. Erinnerst du dich an ihn? So sieht er aus.« Sie sah wieder auf das Bild. »Wenn diese Kinder in Welborn das von ihm gewusst hätten, wäre sein Leben vermutlich nicht mehr sehr viel wert gewesen.«
Matt reichte ihr ein weiteres Foto. Es zeigte ein lachendes junges Paar. Er trug einen Pullover mit Schulabzeichen, und sie hatte einen weiten Petticoat und einen engen Pullover mit flauschigem Kragen an. Sie sahen aus wie Darsteller einer Bühnenaufführung von Grease.
»Deine Eltern?«
»Ja«, antwortete Matt leise. »Das waren sie zu der Zeit, bevor mein Großvater Pleite ging, bevor er seinen Wagen über eine Klippe fuhr und meine
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