Sommer unter dem Maulbeerbaum
und mehrere Personen befragt. Daher war sie in der Lage, nicht nur die Fakten zu präsentieren, sondern eine richtige Geschichte. Sie beschrieb, wie die Calburner Eltern die Schulbehörde so damit genervt hatten, zu welchen Schulen sie ihre Kinder geschickt haben wollten, dass man am Ende die Namen aller Schüler in einen Hut geworfen und einzeln gezogen hatte. Auf Grund dieser willkürlichen Zuordnung waren alle Mädchen an eine Schule gekommen, während eine andere nur zwei Mädchen bekam. Und ebenfalls auf Grund dieser Auslosung geschah es, dass sechs Jungen, die zwar in derselben Stadt aufgewachsen waren, sich bis dahin aber kaum gekannt hatten, zusammenkamen.
Die Reporterin erzählte ein bisschen was über jeden der Jungen, und obwohl sie taktvoll kein einziges Mal ausdrücklich erwähnte, dass sie aus verschiedenen sozialen Schichten stammten, war das doch ganz klar angedeutet. Sie schrieb, die Jungen kämen aus so unterschiedlichen Verhältnissen, dass sie nie-mals Freunde geworden wären, hätte man sie nicht zusammen isoliert.
Als Erster war da Thaddäus Overlander, ein fleißiger Junge, dessen Eltern zu den wiedergeborenen Christen gehörten. In Calburn hatte sich »Taddy« nicht einmal ein Basketballspiel ansehen dürfen, von einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ganz zu schweigen. Frederick Burgess, von allen nur »Burgess« genannt, war ein Sportler, ein Bär von einem Jungen, dem das Lernen schwer fiel. Harper Kirkland lebte allein mit seiner Mutter und war der letzte Spross der Familie, die Calburn gegründet und, der Reporterin zufolge, auch einmal vollständig besessen hatte. Doch Harpers Großvater hatte das Land Stück für Stück verkauft und dann das Geld vergeudet, bis der Familie Kirkland nur noch die kleine Calburner Zeitung gehörte.
Frank McCallum und Rodney Yates waren Vettern und in den Bergen von Virginia unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen. Sie gingen nur deshalb in Calburn zur High School, weil sie bei einem von Rodneys sieben Brüdern lebten, einem jungen Mann, der nach der sechsten Klasse von der Schule abgegangen war. Rodney und Frank jedoch wollten mehr aus sich machen und waren daher fest entschlossen, die Schule zu beenden.
Die Reporterin beschrieb Frank als überzeugenden Redner, der nebenbei Anzeigenkunden für die Zeitung warb.
»Und Rodney Yates muss man sich nur ansehen, um zu erkennen, wo seine Talente liegen«, hieß es in dem Artikel. Daraufhin drehte Bailey den Film weiter, um nachzusehen, ob er irgendwelche Fotos enthielt, doch vergebens. Sie kehrte zum Artikel zurück. »Rodney ist ein äußerst attraktiver junger Mann«, schrieb die Reporterin, »und man sieht ihn selten ohne eine ganze Reihe von jungen Damen in der Nähe.«
»Und dann ist da noch Kyle.«
Als sie das las, hielt Bailey den Atem an. Wie war Matts Vater gewesen? Wie war der wahre Charakter eines Mannes, der seine Frau sitzen ließ - eine Frau, die seinetwegen ihr Erbe und ihre Familie aufgegeben hatte - und dazu noch seine kleinen Kinder?
»Kyle ist der Goldjunge«, schrieb die Reporterin. »Jedermann in Virginia und vermutlich auch noch in einigen anderen Staaten weiß Bescheid über Stanley Longacre und seinen unglaublichen Erfolg. Sie haben alle schon einmal die Villa gesehen, in der Kyle wohnt, die Villa, die sein Vater erbaut hat. Aber es leben ja auch sehr viele Menschen in Häusern, die von Stanley Longacre gebaut wurden. Es scheint angemessen, dass ein Mann, der schon so viel hervorgebracht hat, auch einen Sohn wie Kyle hervorbringen sollte: attraktiv, sportlich, ein Einser-Kandidat, Mitglied des Debattierklubs und der Jahrbuch-Redaktion, seit der vierten Klasse jedes Jahr von seinen Mitschülern zum Klassensprecher gewählt.«
»Aber er hat auch seine Frau und seine Kinder sitzen lassen!«, murmelte Bailey angewidert, bevor sie wieder neu anfing zu lesen.
An jenem Herbsttag des Jahres 1953 hatte jemand, ein Mann mit einer »unheilschwangeren Stimme«, in der Schule angerufen und behauptet, er hätte irgendwo eine Bombe versteckt und »sie würden nicht mehr lebend da herauskommen.« Weniger als eine Minute später füllten sich die Flure bereits mit schwarzem Rauch. In dem darauf folgenden Chaos waren es die sechs Jungen aus Calburn gewesen, die dafür sorgten, dass alle Schüler sicher ins Freie gelangten.
Als die Reporterin eintraf, waren alle Schüler draußen, Feuerwehr und Polizei befanden sich bereits vor Ort, einige weinten. Sie schrieb, dass sie zunächst angenommen
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