Sommer unter dem Maulbeerbaum
oberflächliche Konversation zu machen. Aber in Wirklichkeit horchte sie Matt aus. Sie wollte alles von ihm erfahren, was er über Rodney Yates wusste, und darüber, wie es dem Mann heute ging.
»Warum hast du mir verschwiegen, dass einer von den Goldenen Sechs noch am Leben ist?», fragte sie, während sie Kartoffelbrei auf Matts Teller knallte. »Das war vielleicht ein Schock für mich, als Janice von ihrem Vater sprach. Es war mir so peinlich, dass ich nicht wusste, dass er noch lebt.«
»Das reicht-, sagte Matt leise.
»Oh, Verzeihung«, entschuldigte sie sich, als sie den zwanzig Zentimeter hohen Kartoffelberg auf seinem Teller sah. Sie drehte sich wieder zum Herd um.
»Janice hat weder dir noch sonst irgendjemandem gegenüber ihren Vater erwähnt«, erklärte Matt im Brustton der Überzeugung.
Bailey musste für einen Moment die Augen schließen, um sich wieder zu fangen. Beim Lügen ertappt! Sie warf grüne Bohnen und Mandeln in eine Schüssel. Mogle dich irgendwie durch, dachte sie. »Also schön, ich habe heute kurz bei Violet vorbeigeschaut, und sie hat mir erzählt, dass Rodney noch lebt.«
»Nach dem, was ich gehört habe, bist du mit hundert Sachen durch Calburn gerast und hast den ganzen Nachmittag bei Violet verbracht.«
Bailey wusste, wenn sie darauf eine Antwort gab, würde sie wütend ausfallen, und wenn sie einmal wütend war, dann würde sie mehr preisgeben, als sie eigentlich wollte. Sie setzte sich an den Tisch, nahm ihre Gabel in die Hand und sah ihn an. »Ich wohne jetzt nun mal in dieser Stadt, da würde ich eben gern ihre Geschichte kennen. Einmal habe ich Janice schon vor den Kopf gestoßen; das möchte ich nicht ein zweites Mal tun. Könntest du mir bitte etwas über ihren Vater erzählen?«
Ein paar Sekunden lang hielt Matt den Kopf gesenkt, bevor er sie wieder ansah. »Willst du mir nicht mal erzählen, warum du allen in der Stadt so viele Fragen stellst?«
Darauf gab Bailey keine Antwort. Es gab nichts, was sie hätte sagen können.
»Also schön«, sagte Matt, als er merkte, dass sie nichts erwidern würde. »Du hast gewonnen. Janice verachtet ihren Vater, hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Er ist ein alter Wüstling, ein Alkoholiker. Er war mal gut bei Kasse, hat aber alles vertrunken. Die Mütter von Janice und Patsy waren eineiige Zwillinge, Töchter des hiesigen Arztes. Patsys Mutter hat einen
Zahnarzt geheiratet, und Patsy hat ihr ganzes Leben lang in einem hübschen Haus gewohnt und hübsche Kleider getragen. Aber Janices Mutter hat sich in den schönen Rodney verknallt und ihn geheiratet. Rodney hat alles Geld durchgebracht, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, hat sie nach Strich und Faden betrogen und ihr ihr kurzes Leben zur Qual gemacht.»
Bailey konnte den Zorn in seiner Stimme hören. »Und Scott?», fragte sie leise.
Matt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob seinen noch halb vollen Teller beiseite. »Bist du sicher, dass du all die schmutzigen kleinen Geheimnisse über Calburn hören willst?«
Einerseits wollte Bailey das, andererseits auch wieder nicht. Doch sie konnte ein zustimmendes Nicken nicht zurückhalten.
»Janice war fest entschlossen, es nicht ihrer Mutter gleichzutun. Also ist sie sofort nach dem High-School-Abschluss nach Chicago gezogen und hat dort eine Stelle in einem exklusiven Männermodengeschäft angenommen, wo sie reichen Männern begegnen konnte. In den zwei Jahren, in denen sie dort war, hat sie sich zweimal verlobt, es aber beide Male wieder rückgängig gemacht. Die Männer waren nicht so, wie Janice sich das vorgestellt hatte. Dann kam eines Tages Scott Nesbitt in den Laden marschiert. Er war der jüngste Sohn des reichsten Mannes in einer Kleinstadt etwa zwanzig Meilen von hier. Er war jung, gut aussehend, charmant und vor allem gefügig. Scott hatte nicht die geringste Chance. Janice umwarb ihn, heiratete ihn innerhalb von sechs Monaten und überzeugte ihn dann davon, dass er Virginia nie hätte verlassen dürfen. In Wahrheit wollte Janice nach Calburn zurückkehren und vor den Leuten mit ihrem neu erworbenen Reichtum prahlen.«
Matt holte einmal tief Luft und blickte eine Weile im Zimmer umher. »Janice hat Scott zu dem gemacht, was er heute ist. Sie hat zwanzig Stunden am Tag gearbeitet und aus einem trägen, verwöhnten jungen Mann ... nun ja, den Menschen gemacht, den du kennst.« Matt starrte sie über den Tisch hinweg zornig an. »Ist es das, was du hören wolltest?«
Seine Feindseligkeit verschlug ihr den Atem.
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