Sommer unter dem Maulbeerbaum
2. September vor. An diesem Tag war nichts in der Schlagzeile
auf der ersten Seite zu finden, doch auf Seite sechs hieß es: »Ganz Calburn in Trauer.«
Vor drei Tagen fand man die Leichen von Frank McCallum und seiner jungen Frau in einer Blutlache. Beider Gesichter waren kaum identifizierbar.
Bailey verzog das Gesicht und übersprang die nächsten beiden Sätze. Während der erste Artikel in einem betroffenen, wehmütigen Tonfall verfasst gewesen war, schien dieser hier von einer Vorliebe für blutrünstige Details gespeist. Sie überprüfte die Namen der Verfasser. Ja, die Artikel stammten tatsächlich von zwei verschiedenen Personen. Sie las weiter.
Doch was vor drei Tagen noch niemand wusste, ist, dass sich in dieser verhängnisvollen Nacht in Calburn noch weitere Tragödien ereigneten. Gus Venters, ein allseits bekannter und beliebter Mitbürger, erhängte sich. Seine trauernde Witwe gab gegenüber dem Sheriff an, sie habe keine Ahnung, warum ihr geliebter Mann habe sterben wollen. Sie sagte, er habe alles gehabt, wofür es sich zu leben lohne: eine Farm und ein Gewerbe sowie zwei wundervolle Stiefkinder, die ihn sehr liebten. »Ich verstehe es nicht«, berichtete Mrs Venters unserer Zeitung.
Als sie das las, verzog Bailey erneut das Gesicht. Dass seine Frau fremdgegangen war und ihren Mann aufgefordert hatte auszuziehen, war mit keinem Wort erwähnt. Sie wandte sich wieder dem Artikel zu.
Ebenfalls in der Nacht von Frank McCallums Tod verließ einer der Goldenen Sechs die Stadt und wurde seither nicht mehr gesehen. Bei McCallums Beerdigung kam heraus, dass es Mrs Kyle Longacre gelungen war, das Verschwinden ihres Mannes drei Tage lang geheim zu halten. Doch als Kyle Longacre nicht an der Beerdigung seines Freundes teilnahm, nicht als Sargträger zur Verfügung stand, wusste die Stadt, dass etwas nicht stimmte. Ein Mann wie Kyle Longacre hätte die Beerdigung seines alten Freundes nicht versäumt, wenn da nicht etwas ganz furchtbar im Argen läge.
Eine anonyme, aber verlässliche Quelle unterrichtete den Verfasser dieses Artikels darüber, dass Mrs Longacre eine Tochter der gesellschaftlich bedeutenden Familie Winfield aus Philadelphia ist. Es hat allerdings keinerlei Kontakt mehr zu ihrer elitären Familie bestanden, seit Mrs Longacre nur wenige Monate vor ihrem Abschluss das College verließ, um den charismatischen Kyle Longacre zu heiraten. Aus der gleichen Quelle war zu erfahren, dass besagte Familie der Meinung war, ein Sohn von Stanley Longacre wäre für sie nicht gut genug. Alteingesessene Calburner Bürger werden sich erinnern, dass Kyle Longacres Vater der reichste Mann in der Gegend war, bevor er 1958 alles verlor und mit dem Auto über eine Klippe fuhr. Seine Frau, mit der er dreißig fahre verheiratet gewesen war, saß neben ihm. Auf ihrem Grabstein steht geschrieben: »Vereint im Tode wie im Leben.«
Aus finanziellen Gründen war Kyle dazu gezwungen, noch vor dem Examen von seiner angesehenen Universität im Norden abzugehen. Er kehrte in seine Heimatstadt Calburn zurück und verdiente fortan sein Geld als Handlungsreisender. Schon bald nach seiner Heimkehr bot die junge Dame aus der Gesellschaft, die er auf der Universität kennen gelernt hatte, ihrer Familie die Stirn, heiratete Kyle und ließ sich mit ihrem Mann in Calburn nieder. Seine Arbeit führte ihn allerdings während der meisten Zeit ihrer Ehe von zu Hause fort.
Doch die große Romanze scheint vor drei Tagen ein jähes Ende gefunden zu haben. Der Verfasser konnte in Erfahrung bringen, dass Kyle Longacre seiner Frau eine Nachricht schrieb - über deren Inhalt sie keine Angaben machen möchte - und dann die Stadt verließ. Er lässt sie sowie zwei kleine Kinder zurück, Matthew, 5, und Richard, 3. Auf Anfrage erklärte Mrs Longacre, sie beabsichtige, mit ihren Kindern heim zu ihrer Familie nach Philadelphia zu gehen.
Bailey lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Matts Mutter war nicht nach Hause gegangen, oder falls doch, war sie wieder nach Calburn zurückgekehrt. Was war geschehen? War Matts Mutter mit ihren beiden kleinen Jungen vor der Haustür ihrer Familie erschienen, und war ihr dann der Einlass verwehrt worden?
Die arme Frau, dachte Bailey. Ihre Familie hatte sie verstoßen, weil sie den Mann geheiratet hatte, den sie liebte. Und sie waren selbst dann noch dabei geblieben, als dieser Mann sie sitzen gelassen hatte.
Und armer Matt. Sein ganzes Leben lang hatte er dafür gekämpft, das wiederzuerlangen, was ihm von Rechts
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