Sommerferien in Peking
mehr. Ich fühlemich ganz stark und kann es kaum erwarten, in das Flugzeug einzusteigen.
Es sind noch keine anderen Passagiere im Flugzeug. Ansonsten sieht es nicht viel anders aus als damals, als ich mit meinen Eltern nach Deutschland geflogen bin. Wenn ich meine Augen schließe, werden die Bilder wieder lebendig: Ich sehe Ricky vor mir, wie er als kleines Baby in einer Wiege an der Wand tief und fest schlief. Wie schön, ein Baby zu sein, dachte ich damals. Es kann einfach schlafen und merkt so gar nichts von dem langen Flug.
Dann schweifen meine Gedanken noch weiter zurück. Unser Haus in Peking war leer. Alles war weggepackt. Auch mein Fahrrad. Mein Bett. Mein Kleiderschrank.
Und dann die Abschiedsparty in meiner Schule: Ich konnte nicht teilnehmen, weil ich Fieber hatte. Sophie brachte mir eine kleine Rose. Jedes Kind, das damals die Schule verlassen hat, bekam so eine Rose. Als ich im Bett lag und meine Rose anschaute, hörte ich Mamas Stimme in der Küche: »Die arme Lisa«, seufzte sie.
»Mach dir nicht so viel Sorgen um sie. Wenn wir in Deutschland sind, wird sie die neue Schule mögen und wieder neue Freunde finden.« Das war Papas Stimme. Mama seufzte wieder tief: »Aber sie ist so empfindlich und so ... ein Dickkopf.«
»Na und? Hast du nicht mal gesagt, dass alle in deiner Familie Dickköpfe sind? Du kennst doch deine Tochter – den kleinen tapferen Tiger!«
Ich öffne meine Augen wieder und versuche, nicht länger an so etwas Trauriges zu denken. Papa sagt immer, dass ich die schönen Momente verpasse, wenn ich zu lange über die Vergangenheit grüble.
Die vielen Leute, die jetzt ins Flugzeug einsteigen, bringen mich zurück in die Realität. Eine hübsche chinesische Frau legt ihre schicke Handtasche in das Gepäckfach hoch über meinem Kopf. Auf ihrem weißen Pullover ist ein süßer Panda. Ihre schwarzen glatten Haare sind so lang, dass ich vermute, dass sie sich darauf setzen kann. Als ich neugierig hinschaue, wie sie neben mir Platz nimmt, wird auch sie auf mich aufmerksam, denn sie fragt mich verwundert auf Chinesisch: »Fliegst du alleine, Xiao Meimei?«
Es ist lustig, dass sie mich einfach »kleines Schwesterchen« genannt hat. Ich nicke. »Wie mutig!«, sagt sie wieder auf Chinesisch. Ich traue mich irgendwie noch nicht, mit ihr auf Chinesisch zu reden. Ich lächle höflich zurück und versuche, mich wie ein cooles Mädchen zu verhalten. Das ist ein bisschen schade, weil ich dann gar nicht sehen kann, ob sie jetzt auf ihren Haaren sitzt oder nicht.
Nach dem Abendessen läuft ein Lieblingsfilm von mir: »Spy Kids«. Den habe ich zwar schon mehrmals gesehen, aber noch nie auf Chinesisch. Ohne gefragt zu werden, hilft mir die Frau mit dem Kopfhörer. Als ich leise »Danke!« sage, lächelt sie mir freundlich zu und sagt nur: »Bitte«. Je länger der Film läuft, desto mehr Chinesisch kann ich verstehen.
Irgendwann schalten die Stewardessen die Lichter aus, weil jetzt viele schlafen wollen. Ich weiß nicht genau, wann ich selbst eingeschlafen bin, aber als ich meine Augen wieder aufmache, landen wir schon auf dem Pekinger Flughafen.
Ist das nicht lustig? Oft ist vieles viel einfacher, als man es sich vorher vorgestellt hat. Jetzt denke ich: Was wirklich Angst macht, ist eigentlich nur die Angst selbst. Ich habe gegessen, einen Film angeschaut, geschlafen – und nun bin ich schon da!
Später sagt eine nette Stewardess zu mir: »Als ich nach dir schauen wollte, warst du schon eingeschlafen und die chinesische Frau neben dir hat dich gerade schön zugedeckt.«
Oh, ich habe mich schon gewundert, wer das gemacht hat. Bevor die Frau gegangen ist, hat sie mich nur angelächelt und »Tschüss« gesagt. Jetzt ist sie gar nicht mehr zu sehen. Ich hätte ihr doch Danke sagen sollen.
Am Ausgang sehe ich sofort meinen Lao Ye. Von fern winkt er mir mit seiner Baseballkappe zu, die er immer trägt. Dann sehe ich auch Lao Lao. Mit einem breiten Grinsen steht sie vor mir. Ich werfe mich gleich in ihre Arme. Als ich versuche, Lao Lao und Lao Ye von meiner Reise zu erzählen, rollt plötzlich Chinesisch von meiner Zunge. Am Anfang klingen die Laute noch etwas schwerfällig, aber dann fließen sie wie von selbst, als wäre ich nie weg gewesen.
Danach verabschieden wir uns von der netten Stewardess, die mich bis zum Ausgang begleitet hat. Auf dem kurzen Weg zum Taxi wird mir plötzlich bewusst, dass ich es wirklich allein nach Peking geschafft habe: Es wimmelt nur so von Menschen, chinesischen
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