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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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er zur Sonne fliegen wollte.
    Mit trockenem Mund wandte sie sich nun der Kajüte zu, die sich achtern befand.
    Die Koje war ungemacht – das blau-weiß gestreifte Kopfkissen zusammengeknüllt, die Bettdecke zerknittert, als hätte unlängst jemand darauf gelegen. Seltsamerweise wurde sie bei diesem Anblick ruhiger. Hatte sich Sean hier unten mit einer Frau vergnügt und dabei vergessen, Peg abzuholen? Ihre Panik ließ nach, sie fühlte sich wie betäubt und verspürte einen leisen Kummer, der unter die Haut ging und an den Nerven zehrte.
    Als sie sich anschickte, die Kajüte zu verlassen, nahm sie aus dem Augenwinkel eine offene Aktenmappe mit Papieren auf der Kommode wahr. Bei manchen schien es sich um Kontoauszüge zu handeln – von Bankkunden. Ein Zählbogen, wie ihn die Kinder beim Minigolf zum Auflisten der Punkte verwendeten, war mit » X , Y , Z « gekennzeichnet. An den Rand hatte er mit dicker schwarzer Tinte einen LKW oder Lieferwagen gemalt; daneben standen, von dunklen Kringeln umgeben, die Worte »das Mädchen«, »Hilfe« und der Name »Ed«.
    Was für ein Mädchen? Annie? Pegeen? Bay? Unwahrscheinlich. Bay starrte die Zeichnung an. Sean hatte schon immer den Tick gehabt, auf einem Blatt Papier herumzukritzeln, wenn er telefonierte und sich zu konzentrieren versuchte. Bay hatte ihn vor Jahren einmal damit aufgezogen, dass sie seine Kunstwerke in einem Sammelband abheften würde – er war ein Meister der schraffierten Formen und Karikaturen –, um sie von einem Psychologen analysieren zu lassen.
    Was konnten ein LKW und »das Mädchen« bedeuten? Eine Machofantasie von der Kraft seines Begehrens nach Lindsay? Oder einer neuen Trophäe? Der Gedanke brach ihr das Herz. Mit zitternden Händen blätterte sie den Rest des Aktenordners durch.
    Ein weißes liniertes Blatt Papier fiel ihr ins Auge. Das konnte nicht sein … Sie nahm es in die Hand, zutiefst erschrocken über die Geister der Vergangenheit, die sie abermals eingeholt hatten, zum zweiten Mal an diesem Tag. Es war ein Brief, in ihrer eigenen Handschrift, vor langer Zeit geschrieben …
    Sie hatte wohl einen erstickten Laut von sich gegeben, denn plötzlich wurden die Polizisten auf sie aufmerksam. Sie eilten durch den großen Salon zur hinteren Kajüte.
    »Ma’am, Sie dürfen nicht hier unten sein«, sagte Officer Perry mit erheblich strengerer Stimme als vorhin.
    »Aber das ist mein – unser – Boot.« Sie versuchte zu lächeln.
    »Bedaure«, erklärte er unbeirrt. »Im Augenblick ist das möglicherweise der Schauplatz eines Verbrechens. Bitte gehen Sie auf den Pier zurück und warten Sie dort.«
    Bay erschrak. Sie ließ den Brief unauffällig in der Gesäßtasche ihrer Shorts verschwinden, folgte dem Officer zur Kajütentreppe und sah, was ihr beim Betreten des Bootes entgangen war: eine kreuz und quer verlaufende Spur roter Sprenkel.
    Kleine rote Sprenkel zwischen Luke und Bug. Und am vorderen Ende der Sitzbank, wo die Kinder während der letzten Angeltour zu Abend gegessen hatten – den Schwertfisch hatte Sean für sie an Deck gegrillt –, lag eine blaue Decke, die nun purpurfarbene und schwarze Schmutzflecken aufwies.
    Nur waren es keine purpurfarbenen und schwarzen Schmutzflecken, wie es Bay mit zugeschnürter Kehle dämmerte, als sie auf das Deck stieg: Es war Blut, viel Blut.
    Als sie aus der Kajüte trat, in die frische Luft hinaus, fiel ihr Blick auf Annie und Tara; ihre ernsten Mienen bestätigten, dass nichts so war, wie es sein sollte, und sie wusste, dass an diesem herrlichen, wolkenlosen Tag das Leben ihrer Familie wie in einer Schneekugel in den Grundfesten erschüttert und auf den Kopf gestellt worden war.
     
    Während Annie reglos dastand, geschah etwas Merkwürdiges: Sie hatte das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. Nicht wie die Leute im Fernsehen, die auf dem Operationstisch oder bei einem Autounfall starben, abgeklärt und mit neuen, weisen Erkenntnissen über der Szene schwebten und die Reaktionen der Ärzte und Familie betrachteten.
    Als Annie ihren Körper verließ, flog sie weit weg vom Pier, in die Vergangenheit. Zurück in ihre Kindheit, als ihr Vater sie noch zur Schule gebracht hatte. Er hielt sie an der Hand, sang ihr ein kleines Lied vor, als sie an den Straßenübergang gelangten:
    »Halt an, schau hin, hör zu, bleib stehen;
    erst sehen und hören, dann darfst du gehen …«
    Er hatte sie beschützt und ihr gezeigt, wie man alleine die Straße überquert. Das war die schönste Zeit mit ihrem

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