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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Kleidung, die Eliza in der Kirche an ihr gesehen hatte: einen blauen Rock und ein blassrosa T-Shirt.
    »Ja?« Sie sah verwirrt aus.
    »Ähm, ich bin Eliza Connolly.«
    »Oh.«
    Eliza holte tief Luft. Sie sah, wie Annie sie von oben bis unten musterte. Sie waren wie die Zerrbilder in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt: die eine ein wenig übergewichtig, die andere viel zu dünn. Instinktiv umklammerte Eliza mit der linken Hand ihr vernarbtes rechtes Handgelenk. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie trat einen Schritt vor, stolperte dabei über ihre eigenen Füße.
    Annie fing sie auf, umschlang sie auf eine Weise, die einer Umarmung glich. Als Eliza mit dem weichen Körper zusammenprallte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Annie.
    Eliza versuchte zu nicken, wurde aber von einem Schluchzen geschüttelt.
    »Es geht dir nicht gut, oder?«
    Eliza schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden.
    »Möchtest du ein Glas Wasser?« Annie führte Eliza zu ihrem Bett und drückte sie sanft auf die Kante nieder. »Oder hast du Hunger?«
    »Ich habe seit zweieinhalb Tagen nichts mehr gegessen.«
    »Oh mein Gott! Warum?«
    Eliza starrte in Annies riesige blaue Augen und spürte, wie sich der Schmerz in ihrer Brust löste, in heißen Tränen zerrann. Sie leckte über die Lippen, wünschte sich, der Raum möge aufhören, sich zu drehen, wünschte sich, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. Ihr Blick fiel auf ein kleines, offensichtlich selbst gebasteltes Schiffsmodell über Annies Bett. Sie konzentrierte sich darauf, und es brachte sie auf die Erde zurück.
    »Warum? Weil du mir so leidtust«, sagte Eliza.
    »So leid, dass du nichts essen kannst?«, fragte Annie, und Eliza wusste, dass es bei ihr genau andersherum war.
    »Ja.«
    »Aber warum?«
    »Wegen deiner Familie. Mein Vater kennt deine Mutter, und er hat mir die Todesanzeige gezeigt … es tut mir unendlich leid um deinen Vater.«
    »Kennt deine Mutter uns auch?«
    Eliza schloss die Augen. Das war der harte Teil, der schlimme Teil. Diese Frage ließ sich nicht beantworten – zumindest noch nicht. Das war auch nicht nötig. Annie würde ohnehin merken, dass sie anders waren, dass sie beide alleine auf dieser Welt waren, verlorene Seelen …
    »Meine Mutter ist tot«, sagte Eliza. »Deshalb wollte ich dich unbedingt kennenlernen.«
    »Weil mein Vater auch …«
    Eliza nickte, kam Annie zuvor, damit sie das Wort nicht aussprechen musste, das immer noch so neu, so schrecklich, so unerwünscht war.
Tot.
    »
Das Gedicht, das du vorgetragen hast, war wundervoll.«
    »Es war das Lieblingsgedicht meines Vaters.«
    »Meine Mutter hatte auch ein Lieblingsgedicht. Von Paul Revere.«
    »Kannst du ein paar Zeilen aufsagen?«, bat Annie.
    Eliza nickte. Sie holte tief Luft, und als sie zu sprechen begann, wurde sie ruhig.
    »›Hängt eine Laterne an den Turm
    Der Nordkirche, als Signallicht –
    Eine bedeutet, sie kommen über Land, und zwei, über das Meer
    Und ich werde vom anderen Ufer her …‹«
    »Ich liebe dieses Gedicht«, sagte Annie. »Vor allem den Teil mit dem Signal.«
    »Ich auch.« Eliza strahlte in Anbetracht der Gemeinsamkeit, die sofort eine enge Verbindung zwischen ihnen schuf.
    »Du musst etwas essen«, flüsterte Annie und holte einen Schokoriegel aus ihrer Nachttischschublade. Sie bot ihn Eliza dar wie ein kostbares Geschenk. Eliza starrte das blaue Rechteck an und schüttelte den Kopf.
    »Aber du wirst langsam, aber sicher verhungern, und dann bist du tot.« Annie berührte die Rückseite von Elizas Handgelenk.
    Eliza betrachtete ihre langen Ärmel mit dem durchdringenden Blick eines Mädchens, das von seinem Vater gehasst wurde, dessen Mutter ein Geist war, und sah ein Spinnennetz von Narben, das die Wahrheit verriet, eine Wahrheit, von der Annie nichts ahnte. Sie spürte, dass sie diesem trauernden Mädchen nicht sagen konnte, dass genau das ihre Absicht war: sich langsam, aber sicher zu Tode zu hungern.
    »Es geht mir prima«, sagte Eliza und gab ihr den Schokoriegel zurück.
    »Nein, tut es nicht.« Annie errötete. Mädchen, die viel aßen, taten immer so, als hätten sie keinen Hunger. Eliza wusste das, deshalb war sie geduldig.
    Annie blinzelte, die Augen wieder voller Tränen. Eliza folgte ihrem Blick und sah, wie sie das kleine grüne Boot anstarrte, das während der letzten Wochen in der Werkstatt ihres Vaters gestanden hatte. Sie begriff instinktiv, dass dieses Boot

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