Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Dollars, und die stehen auf 1,28 statt 1,80, wie der US$. Bin mal wieder gerettet. Das Bild kann ich nirgends hinhängen, nur in mein Schlafzimmer. Alle meckern dran herum.
Morgen hole ich bei Pastor Robra 70 Ölbilder sowie einen größeren Nachlaß. Bin mal neugierig, was das für Bilder sind.
2007: Es handelte sich um den Nachlaß Teich, der dann später im«Echolot»eine sehr wichtige Rolle spielte. Guntram Vesper half mir, die Bilder einzupacken. Der Besitzer fragte, als ich Vesper vorstellte:«Kann man dem trauen?»
Sitze jetzt in einem Café auf dem Marktplatz, viel herumlungerndes Volk. – Erkaltete Erinnerungen.
Friseuse hat mich unglaublich zugerichtet.
19 Uhr
Junkern-Schenke, noch keiner da, wie immer bin ich der Erste.
Allzeit fröhlich ist gefährlich.
Allzeit traurig ist beschwerlich.
Allzeit glücklich ist betrüglich.
Eins um’s andere ist vergnüglich.
Für oder wider Berlin:
Wir erlebten in den letzten Wochen das, was man einen Eiertanz nennt: Aus lauter Sorge, nichts kaputtzumachen, tanzte der Bundestag uns eine Verrenkungspolka vor. Der Minister mit der Nickelbrille gab sich wie ein Narr, ein frischgebackener Kanzlerkandidat (SPD) entblödete sich nicht zu sagen, er sei für Bonn, weil er dort aufgewachsen sei, andere, die wir bis dahin für seriös hielten, geben auf der Apothekerwaage mal links, mal rechts ein Gramm dazu. Uns wurde vorgerechnet, immer wieder, daß der Umzug 50 Mia. koste, damit Klein Fritzchen diese Summe mit den Kosten der Einheit hübsch rund addieren kann, wo doch jeder denkende Mensch weiß, daß diese Kosten keine Kosten, sondern Investitionen sind und überdies nicht auf einmal entstehen, sondern über einen Zeitraum von zehn
Jahren anfallen. Erfüllung der Geschichte läßt sich nicht in Mio. und Mia. ausrechnen. Wer gegen Berlin ist, verweigert uns eine geschichtliche Umkehr vor Ort.
Wenn es schon keine Steuerlüge gibt, jetzt haben wir eine Hauptstadtlüge. Man möchte Terrorist werden.
Und das Schönste: Unsere schafsdumme Nation läßt sich das bieten.
Katatonie.
Beim Frisör aufgeschnappt:
Meine Freundin war gerade im Haus der Jungen Pioniere auf einem Fest. Das war eine Mischung zwischen Politik und Kunst, alle waren angetrunken, und da kam ein Kamerateam, die haben gesagt:«Wir gehen jetzt an die Mauer, die wird offengemacht.»Und sie hat gedacht: Die sind alle so besoffen, daß sie jetzt zu spinnen anfangen. Sie ist nicht hin, hat auch nichts mitgekriegt, ist nach Hause, ist am nächsten Morgen nach Adlershof (sie arbeitete dort) gefahren und hat festgestellt, Richtung Adlershof ist sie allein in der S-Bahn, während die S-Bahnen in Richtung Innenstadt total voll waren. Und sie stand dann vor einem verschlossenem Tor mit einem Zettel dran: WIR SIND IM WESTEN!
Hamburg Do 20. Juni 1991
1933: Clara Zetkin gestorben
Lesung in der Akademie der Künste. Wenn man da Mitglied ist, kriegt man kein Honorar für seine Darbietung – schmerzlich. Hinterher chinesisch.
Nartum Fr 21. Juni 1991, schön
Also: Berlin wird Hauptstadt. Ich hatte schon Depressionen, in dem Stil:«Ich mach’ nun nicht mehr mit!»Wollte Drohbriefe schreiben und überlegte mir, daß ich später jeden Bundestagsabgeordneten, der mich hier besuchen will, frage:«Haben Sie für Berlin oder Bonn gestimmt, seinerzeit?»Und die Bonner dann rausschmeißen.
Die sonderbare linke Stimmungsmache vorher in den Talk-Shows, da gab es überhaupt nur Bonn, und Pleitgen so siegessicher (warum nur?), und Diepgen wurde immer kleiner und kleiner.
Die Reden waren zum Teil sehr eindrucksvoll, Schäuble, wunderbar, staatsmännisch, dem hab’ ich gleich ein Telegramm geschickt, in seinem Rollstuhl, das kam noch dazu. Kohl auch würdig, dabei etwas«schelmisch», und sehr klug, sich als Kanzler zum Osten zu bekennen, das nenne ich staatsmännisch.«Wie das nun im einzelnen gehandhabt werden wird, das werden wir sehen.»
Auch Vogel war eindrucksvoll, man glaubte ihm das Pathos. Brandt hielt keine große Rede, aber er durfte nicht fehlen. Ich glaube fast, daß Schäuble das Ruder herumgerissen hat.
Die Matthäus-Maier, wie so’ne Mutti mit Handtasche unterm Arm, früher mal FDP, quatschte sogar was von Kindergärten. Die Bonn-Leute hatten was Kleinkariertes, Krämerhaftes an sich, im Grunde keine echten Argumente. Ihr Haus, das sie sich erarbeitet haben, das hält sie von staatsmännischen Entscheidungen ab. Frau Süssmuth grinste dann auch einigermaßen debil, als sie das
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