Somniferus
›Schlafbringer‹ oder
›Schlafträger‹. Ich gehe sicherlich recht in der
Annahme, dass Dein Latein schrecklich ist. Wie gut, dass Camerarius
auf Deutsch geschrieben hat, nicht wahr? Der Kult dieser Gottheit,
der auch Blutopfer dargebracht wurden, ist äußerst
seltsam. Was ich über die Riten in Erfahrung bringen konnte,
reicht aus, um jeden Horrorautor zu beschämen. Aber um diesen
Kult, der aus Kleinasien in das Römische Reich eindrang und auch
im Trierer Raum ausgeübt wurde, geht es mir jetzt nicht. Von
Somniferus ist bis heute kein einziges Standbild bekannt – weder
in Kleinasien noch in Italien noch in Deutschland hat man je sein
Bild gefunden. Ich habe aber Grund zu der Annahme, dass Camerarius in
seinem Enchiridion eine solche Statue oder eine andere
bildliche Darstellung nicht bloß beschreibt, sondern auch
erwähnt, wo sie zu finden ist. Nur der Seltenheit dieses Buches
– und vermutlich der Tatsache, dass er den Standort nicht offen,
sondern chiffriert beschrieben hat – ist es zu verdanken, dass
die Welt keine bildliche Darstellung des Somniferus besitzt. Glaube
mir, ich habe mich eingehend mit dieser erschreckenden Gottheit
befasst, und ich habe einen sehr guten Grund für meinen Wunsch,
du mögest das Standbild ausfindig machen. Du brauchst bloß
Notar Harder mitzuteilen, wo es sich befindet – vermutlich ist
es nicht sehr groß, vielleicht dreißig Zentimeter hoch,
vielleicht sogar kleiner – und Du bist ein gemachter Mann. Ich
bin mir so gut wie sicher, dass irgendwo ein solches Standbild die
Zeiten überdauert hat; meine Informationen weisen darauf hin.
Nun wirst Du Dich natürlich fragen, was ich damit
bezwecke, dass ich Dich auf diese Suche schicke, wo ich selbst doch
nichts mehr von dem Standbild haben werde, da ich ja tot bin. Die
einzige Antwort, die ich Dir darauf geben kann, lautet: Sei nicht so
neugierig! Ich habe sehr gute Gründe. Verdammt gute Gründe,
das kannst Du mir glauben. Und Dein Erbe – das, wie ich zuvor
schon geschrieben habe, noch beträchtlich größer ist,
als Du dir vorstellen kannst – sollte Dir Ansporn genug sein. Es
ist Dir gelungen, das Buch an dich zu bringen; da wird es Dir doch
sicherlich leicht fallen, den Spuren darin bis zu der Statue des
Somniferus zu folgen. Nur auf eines muss ich Dich noch hinweisen. Ich
weiß, dass Du zwar manchmal unheimliche Geschichten schreibst,
aber selbst nicht an das Übernatürliche glaubst –
nicht an Gespenster, Werwölfe, obskure Erscheinungen und
dergleichen. Es gibt jedoch hinsichtlich des Gottes Somniferus –
und damit auch hinsichtlich des Buches – einige
Merkwürdigkeiten. Man sagt, dass bereits eine intensive
gedankliche Beschäftigung mit diesem Gott dazu führt, dass
er erweckt wird und nach einem sucht – dass er durch die
Träume kommt und ein Opfer verlangt. Wer sich zu eingehend mit
diesem Wesen beschäftigt, wird seinen Blutdurst zu spüren
bekommen. Ich weiß, dass es einigen Leuten so ergangen ist.
Aber Du, mein lieber Neffe, wirst diesem Geschwafel eines alten,
abergläubischen Priesters natürlich keinen Glauben schenken
und das ist gut so. Denk an die Reichtümer, die auf Dich warten
– und versuche nicht, Notar Harder dazu zu überreden, Dir
das Erbe auch ohne die Statue auszuhändigen. Er kann es nicht
– genauso wenig, wie er Dir den Safeschlüssel verschaffen
konnte. Und nun wünsche ich gute Lektüre und eine
erfolgreiche Suche.
Dein Dich immer liebender Onkel Jakob
Es wäre eine Untertreibung, wenn ich behaupten wollte, dass
mich dieser Brief verwirrte. Verständnislos schaute ich meine
Begleiterin an.
Sie sagte nach einer Weile: »Sind Sie sicher, dass Ihr
Onkel… geistig gesund war?«
»Inzwischen nicht mehr, wenn ich ehrlich sein darf«,
antwortete ich. Was sollte das alles? Warum sollte ich unbedingt
diese Statue beschaffen? Warum interessierte es ihn über den Tod
hinaus? Und was sollte dieses Gefasel über den Blutdurst des
Somniferus und darüber, dass ich mich vor ihm in Acht nehmen
sollte?
»Dann wäre es das Beste, wenn Sie das alles auf sich
beruhen lassen und nach Hause fahren«, sagte Frau Adolphi.
Ich sah sie mit großen Augen an. »Haben Sie etwa
vergessen, dass ich als Mörder gesucht werde? Ich habe kein
Zuhause mehr. Auch in Köln wird inzwischen bereits die Polizei
auf mich warten. Für mich gibt es nur die Flucht nach
vorn.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte
Lisa Adolphi, stand auf, nahm das Buch an sich, das sie zuvor auf dem
Tisch abgelegt
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