Song of the Slums
sah.
»Sie wollen meine Hand küssen?«
»Bitte.«
»Obwohl wir nicht verheiratet sind? Nicht einmal verlobt?«
»Darf ich?«
»Sie dürfen.«
Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie sanft. Dann drehte er sich sofort um und ging – allerdings konnte Astor noch sehen, wie sich sein Gesicht blutrot färbte.
• 67 •
In Astors Kopf drehte sich alles. Sie hatte es geschafft, die letzten fünf Minuten vernünftig zu reden – zumindest glaubte sie, dass sie das getan hatte; doch kaum war Lorrain gegangen, war sie vollkommen von dem Gedanken überwältigt, dass das Allerunwahrscheinlichste wahr geworden war: Er wollte sie also doch heiraten!
Es war, als läse sie eine Geschichte über sich selbst – eine Geschichte mit dem bestmöglichen Ende. Ihr alter Traum ging also doch noch in Erfüllung, und im Moment wollte sie nichts mehr, als das genießen.
Sie kuschelte sich tiefer in die Kissen der Fensterbank. Regen rann außen am Fenster herab, während sie geschützt und behaglich drinnen saß. In ihrem Kopf spielte sie wieder und wieder durch, was sich eben ereignet hatte, und von Mal zu Mal war sie zufriedener.
Ich
habe das geschafft, dachte sie. Ich allein. Ihr Stiefvater hatte sie loswerden wollen, Bartizan und Phillidas hatten sie herabgesetzt, sie war von allen gedemütigt worden. Was für ein Schlag in ihr Gesicht würde es sein, wenn sie Lorrains Antrag annahm!
Sie stellte sich das Gespräch mit ihrem Stiefvater vor … wie sie ihn in Lambeth aufsuchen würde, um ihm neue wichtige Nachrichten zu überbringen. Dann würde sie ihm von Lorrains Antrag berichten und seine formale Zustimmung erbitten. Wie ihm die Gesichtszüge entgleiten würden! Wie er es verabscheuen würde! Weil es ja nicht wirklich eine Bitte um Zustimmung sein würde, denn wenn Bartizan und Phillidas hinter Lorrain standen, war es so gut wie ein Befehl. Sie hatte genug gesehen beim Empfang der Herzogin von Norfolk, um zu wissen, dass die Galionsfigur der Plutokraten für sie nicht viel mehr als eine Marionette war.
Nun stellte sie sich eine große Hochzeitszeremonie vor … natürlich in einer Kirche, vielleicht in St Paul’s Cathedral. Marshal Dorrin wäre gezwungen, sie an Vaters statt zum Altar zu führen – was ihm schlussendlich gefallen würde, denn so würde er sie auf immer los. Und Lorrain würde an ihrer Seite sein, mit seinen wunderschönen Augen, seinem pechschwarzen Haar und seinem perfekten Aussehen … sie konnte einfach nicht darüber hinwegkommen, wie unglaublich gutaussehend er war. Es würde in ganz England kein Mädchen geben, das nicht krank vor Neid wäre.
Und er fand sie gutaussehend. Selbst wenn sich ihr kupferfarbenes Haar komplett weiß verfärbt hätte, würde er glauben, dass sie umwerfend aussehe.
Umwerfend
statt
hübsch
? Hübsch sein zu können, hatte sie längst aufgegeben – sie war sich sicher, dass niemand mit strahlend schneeweißem Haar hübsch sein konnte. Aber vielleicht war sie auf andere Weise attraktiv? Lorrains Worte und die Bewunderung in seinen Augen hatten ihr ein Gefühl für ihr eigenes Aussehen zurückgegeben, das sie schon fast vergessen hatte.
Ihr fiel ein, dass sie auf dem Weg zu diesem Erkerfenster an mehreren Wandspiegeln vorbeigegangen war – und deshalb
musste
sie einfach gucken gehen. Sie machte sich auf den Weg zum nächsten Spiegel.
Kein Wunder, dass Lorrain das Weiß bemerkt hatte! Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, sprang es sie geradezu an. Sie war verblüfft, wie schnell es gewachsen war. Mit ihrem schmal gewordenen Gesicht und den dadurch stark hervorstehenden Wangenknochen hatte sie sich selbst kaum wiedererkannt. Sie schloss ihre Augen ein wenig und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit völlig weißen Haaren aussehen würde.
Umwerfend
? Wie auch immer, eindrucksvoll allemal …
»Verzeihen Sie, Miss. Ob Sie jetzt wohl wieder zurück wollen?«
Sie drehte sich um und entdeckte einen Diener in respektvoller Entfernung. Woher war er plötzlich gekommen? Oder hatte er sie die ganze Zeit beaufsichtigt?
»Ja. Warum nicht?«
Die Illusion von Privatheit war verschwunden; da war es dann doch besser, sich einen geschützten Ort auf dem Dachgarten zu suchen. Sie folgte dem Diener die Treppen hinauf zurück zum Pavillon. Doch als ein weiterer Diener ihr anbot, sie mit dem Schirm durch den Garten zu begleiten, schüttelte sie den Kopf. Außerdem hatte der Regen nachgelassen.
Ein geschützter Ort … sie ging in Richtung ihrer Unterkunft und bog dann zu
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