Song of the Slums
das einzige in Slumtown, das über einigermaßen klares Wasser verfügte, und daher hatte sich diese Gang auf Wäscherei spezialisiert. Hink führte sie um etliche riesige Waschzuber herum, an denen Gangmitglieder arbeiteten, und sie mussten sich unter endlosen Leinen hindurchducken, an denen Wäsche zum Trocknen hing. Astor fragte sich, wie überhaupt irgendetwas in dieser feuchten Luft trocknen konnte.
Hinter den Wäscheleinen erhoben sich wie Ungeheuer aus der Vorzeit die gigantischen Abraumhalden, die die Grenzen von Slumtown markierten. Das Gebiet dazwischen bestand aus Brachland, völlig leer, abgesehen von vier riesigen Arealen, auf denen Metallrohre gestapelt waren.
Plötzlich blieb Hink stehen, hielt einen Arm in die Höhe und lauschte.
»Ja«, nickte er. »Sie ist immer noch hier.«
»Wo?«
»Folgt mir einfach.«
Mit übertriebener Vorsicht führte er sie zu einem der Metallrohre. Jetzt konnten alle die Musik hören: eindringlich und reich an Obertönen. Die Art und Weise, wie die Noten ineinander flossen, ließ die Haare auf Astors Armen zu Berge stehen.
»Psst. Erschreckt sie nicht«, flüsterte Hink über seine Schulter hinweg.
»Schüchtern, was?«, fragte Ollifer.
Hink zog ein Gesicht. »Sie versteckt sich, um ganz allein zu spielen. Was sagt ihr zu der Musik?«
Das Rohr war etwa sechs Meter lang, und die Musik ertönte aus seinen beiden Enden. Sie folgten Hink zum einen Ende des Rohrs und spähten hinein.
Der Rücken des Mädchens war gegen die eine Seite des Rohrs gepresst und die Beine gegen die andere gestemmt, sie lag mehr darin, als dass sie saß. Jemand von Verrols Länge hätte sich nie in so einen engen Raum quetschen können. Sie konnten weder das Gesicht des Mädchens noch ihr Instrument erkennen, es blieb nur ein Eindruck von dunklem Haar und schwarzer Kleidung. Sie bewegte einen Arm vor und zurück, während sie spielte, und es schien, als blase sie in eine Art Tuba.
Vielleicht gefiel ihr der Nachhall in dem riesigen Rohr. Die Harmonie, die sie erzeugte, schien jedenfalls einem ganzen Orchester zu entspringen, und die Melodie, die immer wieder anschwoll und abfiel, wirkte besonders bei den abfallenden Partien enorm ansteckend … so sehnsuchtsvoll und intensiv und leidenschaftlich. Die Musik zerriss Astor das Herz.
»Was
ist
das?«, murmelte Purdy.
Er meinte das Instrument. Astor stieß ihn an und bedeutete ihm, ruhig zu sein. Jetzt hörte Astor, dass das Mädchen vor sich hinsummte, während sie spielte. Vielleicht die Worte eines Songs?
Nach einigen Minuten zogen sie sich wieder zurück, um sich auszutauschen. Astor fiel es schwer, sich von der Musik loszureißen. Ihre Meinung stand fest.
»Wir brauchen das Instrument in der Band«, sagte sie.
»Granny fällt die Entscheidungen«, entgegnete Purdy.
»Granny wird es gefallen. Es
muss
ihr gefallen.«
»Es wird alles verändern«, grübelte Ollifer. »Nicht mehr wie normale Gangmusik.«
»Dann verändert es eben alles«, gab Astor unnachgiebig zurück. »Und wenn die Musik des Mädchens nicht zu uns passt, müssen wir eben zu ihr passen. Wir können …«
Sie hielt inne, allerdings einen Moment zu spät, denn der letzte Ton war bereits verhallt. Die Musik hatte ihre Stimmen übertönt, doch nun, in der plötzlichen Stille, waren ihre Worte laut und deutlich zu hören.
»Wer ist da?«, fragte das Mädchen mit leiser Stimme.
Die Bandmitglieder erstarrten zu Eis – alle außer Hink, der außen an dem Rohr entlang spurtete.
»Wir sind’s nur«, sagte Verrol. »Wir würden uns gern mit dir unterhalten.«
Hink erreichte das andere Ende des Rohrs just in dem Moment, als das Mädchen hinaussprang. Ihr Instrument hing an einem Riemen, den sie über der Schulter trug, und Hink konnte ihn ergreifen und sie daran hindern, wegzulaufen.
»Es ist nichts Schlimmes«, beruhigte er sie. »Bitte lauf nicht weg.«
Das Mädchen blickte auf Hinks Hand, die den Riemen festhielt, und in sein fröhlich-freches Gesicht – und rührte sich nicht von der Stelle.
Jetzt hatten die anderen sie auch erreicht. Sie hatte glattes schwarzes Haar und ein zartes Gesicht mit einem sehr kleinen Mund und einem winzigen spitzen Kinn. Ihre Augen wiederum waren riesig, und sie wirkten durch die schwarzen Lidstriche noch größer. Sie trug eine glänzende Jacke, die mit Teeröl wasserfest gemacht worden war, ihre Augenbrauen waren mit kleinen Metallstäbchen mehrfach gepierct, Metallspiralen sprangen von ihren Ohren, und ihre Nasenflügel waren mit
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