Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
mancher Hinsicht ist es das ja auch. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was Nocturna uns zugedacht hat.“
„Ich habe alles untersucht“, sagte Schatten matt. „Die Mauern, das Dach. Ich würde sogar durch diese blöden Insektenrohre kriechen, wenn ich klein genug wäre ...“
„Du wirst einen Weg finden“, sagte Frieda einfach. „Ich weiß, du wirst.“
„Wie?“, fragte er müde.
„Klänge. Das ist das Werkzeug aller Fledermäuse, es ist aber auch deine besondere Gabe. Erinnerst du dich, ich habe immer gesagt, du bist ein guter Zuhörer, dass du Dinge hören würdest, die kein anderer hören könnte. Du wirst dir deinen Weg hier hinaushorchen.“
In dieser Nacht wurden seine Träume von Goths Atemgeräuschen verschmutzt, seinem Herzschlag, als wäre Schatten in seinem Bauch. Silbrige Eindrücke leuchteten wie Klangbilder in seinem schlafenden Inneren auf. Irgendwie waren sie so vertraut, dass er wusste, er musste sie schon einmal geträumt haben. Eine zweiköpfige Schlange mit Federn, ein geschmeidiger Jaguar und dann das Entsetzlichste von allem: zwei Augen ohne Gesicht, nur zwei Schlitze, die in die Dunkelheit geschnitten waren, die schwärzer glänzten als jede Nacht.
Er wollte aufwachen, aber er konnte nicht.
Sein Traum wurde plötzlich von einem merkwürdigen Geruch durchdrungen, süß und ein wenig eklig. Er mühte sich die Augen zu öffnen, und vielleicht tat er das auch, denn er glaubte den Wald zu sehen, durch den sich große zweibeinige Gestalten bewegten. Menschen? Sie hatten keine Gesichter. Wie Gespenster glitten sie zwischen den Bäumen hindurch. Entsetzt beobachtete er sie, unfähig sich in seinem Traum zu bewegen. Sie hatten Arme, lange skelettartige Arme, die ruckartig in die Luft griffen, in die Äste der Bäume, zu den schlafenden Fledermäusen ...
Dann konnte er die Augen nicht länger offen halten und eine grauenhafte Finsternis verschlang ihn wieder.
Er erwachte beim Klang ängstlicher Stimmen. Sie überlagerten einander.
„... kann ihn nirgends finden...“
„... wo sind sie hin?“
„... sie ist verschwunden...“
Sein Herz stolperte. Verschwunden? Er erhob sich von seinem Schlafplatz in die Luft und stellte die Ohren weiter auf. In alle Richtungen jagten Fledermäuse durch den Wald und riefen in wachsender Verzweiflung Namen.
„Dädalus ... Hekuba ... Miranda?“
Er stellte die Flügel an, schlug kräftig mit ihnen dorthin, wo Ariel und Marina gerne lagerten. Er fühlte sich merkwürdig schlaff, sein Mund war trocken und schmeckte säuerlich. Ein dumpfer Schmerz pochte an der Basis seines Schädels.
„Weg ... weg ... weg.“ Das Wort hallte zwischen den Bäumen, vermischt mit Schluchzern.
„Was ist los?“, fragte er ein Grauflügelweibchen, das erregt auf ihn zugeflattert kam.
„Hast du meine Ursa gesehen?“, wollte sie wissen. „Nein, ich ... “
„Ich kann sie nirgends finden“, jammerte die Grauflügelmutter. „Sie ist verschwunden wie die anderen.“
„Was meinst du damit?“
„Sie sind alle weg!“ Sie flog weiter und rief mit brüchiger Stimme den Namen ihrer Tochter.
Schatten drehte jetzt ab durch die Äste, preschte durch das Laub und schoss auf eine Lichtung hinaus. Wie dumm er doch gewesen war sich von ihnen fern zu halten und mit Marina zu streiten. All die wütenden Gedanken, die er den beiden gegenüber gehegt hatte, kamen ihm nun kindisch und grausam vor.
„Marina? Mami?“
Dies war der Ort, wo sie gewöhnlich schliefen – wo waren sie? Er rief wieder, aber da waren so viele andere Fledermäuse, die Namen riefen, dass das ganz aussichtslos war, nur ein Nebel von Geräuschen. Fast erstickt vor Atemlosigkeit flog er zu den Baumwipfeln hinauf.
Eine große, wirbelnde Menge Fledermäuse hatte sich über den Bäumen zusammengefunden, und in ihrer Mitte konnte er Ariel erkennen.
„Schatten!“
Er wendete und schrie fast auf vor Erleichterung, als er Marina und seine Mutter auf sich zufliegen sah. „Wir haben nach dir gesucht!“
„Und ich nach euch!“
Sie umarmten sich flüchtig in der Luft, alle drei. Dann hielt Schatten inne. „Und Frieda?“
„Ihr geht’s gut, aber es gibt andere, die fehlen. Ikarus. Plato und Isis und ...“ Seine Mutter zögerte.
„Chinook?“, fragte Schatten leise. Seine Mutter nickte. Der Kopf dröhnte ihm und er hatte ein Gefühl von Übelkeit – und von Schuld. Er hatte so lange den Wunsch gehegt, Chinook möge einfach verschwinden, dass er den verrückten Gedanken nicht abschütteln
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