Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
sie deren Kraft in sich auf. Zotz war der einzige Gott, hatte Goth gesagt.
„Die Wächter waren gerade dabei, mich zu dem Stein zu bringen, aber da ist etwas passiert. Goth hatte noch das Herz von Hermes im Maul, und plötzlich war der ganze Raum voll Lärm. Es war anders als alles, was ich je gehört habe, es ...“ Ishmael musste eine Pause machen, um zu Atem zu kommen, seine mageren Flanken bebten.
„Trink“, sagte Caliban leise.
Ishmael trank. „Da war etwas in dem Raum, eine Art Anwesenheit, die wie ein Tornado herumraste. Es schien direkt in König Goths Kehle zu gehen und er begann mit einer Stimme zu sprechen, die nicht seine eigene war. Auch die Wächter waren entsetzt und schreckten zurück und ich konnte mich losreißen. Bevor sie mich wieder packen konnten, habe ich einen Spalt im Steinboden entdeckt und mich da hineingestürzt. Da waren andere Spalten, die weiter in die Tiefe führten. Ich war inzwischen dünn genug, dass ich mich wie ein Insekt durchzwängen konnte. Alles, was ich hören konnte, war der Lärm über mir, und ich bin gekrochen, bis meine Krallen blutig waren.“ Er hielt sie hoch, damit die anderen sie sehen konnten. Schatten zog sich der Magen zusammen. Es war praktisch nichts mehr übrig von den Krallen.
„Ich habe ein Netzwerk von Luftschächten gefunden, zu eng für die Kannibalen, und habe gewartet, ich weiß nicht, wie lange, auf eine Gelegenheit wegzufliegen. Ich habe drei Tage gebraucht, um hierher zurückzukommen. Die Kannibalen waren überall. Ich konnte kaum fliegen. Ich habe nicht gedacht, dass ich es schaffen würde.“
Und dann, als Ishmael seine Geschichte erzählt hatte, fiel er in sich zusammen. Das Geräusch, das aus seinem gebrochenen Körper kam, war anders als jedes Weinen, das Schatten je gehört hatte, grob und hässlich, als würde es aus seinen eigenen Knochen herausgeschlagen.
Während Schatten zuschaute, kamen vier oder fünf andere Fledermäuse näher an Ishmael herangeflogen und hüllten ihn mit ihren Flügeln ein, bis er ganz verborgen und sein Schluchzen von ihren Körpern gedämpft war. Nach ein paar Minuten löste sich die Gruppe auf und Ishmael schien ruhiger.
„Die anderen, die noch in dem Verlies sind“, fragte Caliban vorsichtig, „wer sind sie?“
Schatten spürte, wie sich alle in schrecklicher Erwartung anspannten, als Ishmael stoßweise begann Namen aufzuzählen. Er konnte kaum hinhören, so sehr hoffte er. Die Liste schien quälend lang, bis zu einundzwanzig jetzt. Diese anderen Namen waren für ihn nichts als grausame Geräusche.
„... Lydia, Sokrates, Monsun ... und Cassiel. Er war auch da.“
Schatten fiel wieder ein zu atmen. Er bemerkte, dass Caliban ihn anblickte, und konnte den Ausdruck seiner Augen nicht deuten: Mitleid vielleicht, vermischt mit etwas Hartem und Entschlossenem.
„Wir brechen morgen Nacht auf“, sagte Caliban knapp. „Wir können es nicht riskieren, länger zu bleiben.“
Schatten brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen, was er gerade gehört hatte. „Wie meinst du das? Wir müssen sie befreien! Chinook ist jetzt auch da!“
Ishmael blickte ihn gequält an. „Nein. Das kannst du nicht.“
„Ich werde sie holen!“
„Wir brechen morgen auf“, sagte Caliban ungestüm. „Das ist unser Plan, und wir werden davon nicht abweichen. Das ist unsere einzige Überlebenschance. Die anderen haben ihre bereits verloren.“
„Dann fliege ich allein“, sagte Schatten und wandte sich zu Ishmael. „Erklär mir nur den Weg.“
„Das war vor drei Nächten“, sagte Ishmael. „Möglicherweise ist Cassiel inzwischen tot.“
„Er ist mein Vater!“, flehte Schatten.
„Und ich habe meinen Bruder zurückgelassen“, zischte Ishmael. Seine Augen flackerten vor Wut. „Ich habe nicht einmal versucht umzukehren, um ihn herauszuholen. Ich bin einfach weggeflogen. Ich habe mich in Sicherheit gebracht und ihn dem sicheren Tod überlassen. Weißt du, wie das ist? Aber es gibt nichts, was ich hätte tun können. Es gibt nichts, was irgendjemand tun kann. Hörst du mir überhaupt zu? Sie sind zu tausenden.“
„Du bist entkommen.“
„Es war ... sie haben einen Fehler gemacht. So hatte ich eine Gelegenheit wegzufliegen.“ Ishmael schüttelte den Kopf. „Es wird ihnen nicht wieder passieren.“
„Wir erheben uns morgen in den Himmel und machen uns auf den Weg. Bei Sonnenuntergang“, sagte Caliban. „Es ist die einzige Möglichkeit. Möge Nocturna uns beschützen.“
Schatten lachte und es klang
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