Sonnenkoenig
ihren Nachwuchs unter Kontrolle zu halten. Das ganz normale Leben.
Wie gerne hätte Ninus ein gleichermaßen alltägliches Leben geführt. Zusammen
mit Elke. Elke, seine große Liebe, die Frau, die er geheiratet hatte, die Frau,
die ihn unsanft fallen ließ, die aus seinem Leben verschwand, als hätte es sie
nie gegeben. Keine Schuldzuweisungen, keine Schlammschlacht. Eines Tages stand
sie vor ihm und sagte, sie würde ihn verlassen. Er brauche sie nicht nach den
Gründen zu fragen. Es sei einfach vorbei. Aus, Ende und tschüss. Zuletzt
gesehen hatte er sie vor Gericht, bei der einvernehmlichen Scheidung. Sie war
ein anderer Mensch geworden, den er nicht mehr erkannte, nicht mehr kannte. Auf
dem Stuhl neben ihm im Amtsgericht hatte eine fremde, ihm völlig unbekannte
Frau gesessen. Allerdings eine, die ihm nicht gleichgültig gewesen war.
Jedenfalls damals noch nicht. Sein Herz hatte geblutet, sein Geist nicht
begriffen. Von einem Tag auf den anderen war sein altes Leben abgeschnitten und
in den Mülleimer geworfen. Pläne zerrissen, Träume geplatzt. Alles war darauf
hingelaufen, gestand er sich vier Monate nach der Scheidung ein. Seine
Unzufriedenheit im Job und ihr unerfüllter Kinderwunsch hatten sie entzweit.
Langsam und schleichend. Er bemerkte es nicht. Hätten sie etwas ändern können?
Müßig, darüber nachzugrübeln, dachte Ninus, drückte die Zigarette auf einem
Dachziegel aus und warf sie in den Aschenbecher. Vor fünf Monaten Vaters Tod,
vor vier Monaten die Scheidung, vor drei Monaten den Job hingeschmissen und
seit gestern ›privater‹ Detektiv, spezialisiert auf Versicherungsbetrug. Steile
Karriere auf einem Riesenhaufen Lebenstrümmer. Was sich den ganzen Tag
angekündigt hatte, brach jetzt los. Ein heftiges Gewitter zog über die Stadt,
entlud donnernd und blitzend überflüssige Energie und verwandelte den Tag zur
Nacht. Heftige Regenschauer prasselten auf die Dächer, in die Straßenschluchten
und auf die Menschen, die ins Trockene flüchteten. Plötzlich war die Neugasse
wie leer gefegt. Kein Mensch mehr zu sehen. Doch, halt. Einer noch. Eine Frau
stand mit ausgebreiteten Armen in der Mitte der Straße, den Kopf gen Himmel
gerichtet. Noch eine Durchgeknallte, dachte Ninus und wollte ins Zimmer
zurückgehen. Allerdings, die Frau faszinierte ihn. Alle Welt flüchtete vor dem
Regen und der Nässe, und sie, sie genoss es sichtlich, durchweicht zu werden,
das sanfte Wasser und den nassen Stoff ihrer Kleidung auf der Haut zu spüren.
So was müsste ich können, ging es Ninus durch den Kopf. Sich einfach gehen
lassen, sich dem Moment hingeben und genießen. Ninus traute seinen Augen nicht.
Hatte sie ihn gesehen? Ganz offensichtlich winkte sie zu ihm herauf. Zaghaft
winkte er zurück. Tatsächlich. Sie blieb unbeweglich stehen, lediglich ihre
Hand am ausgestreckten Arm bedeutete ihm, zu ihr hinunterzukommen. Niemals!
Zwei Minuten später stand Ninus
neben ihr. Das Gesicht zum Himmel gewandt, die Arme ausgebreitet, durchweichte
ihn der Regen. Nicht nur seine Kleider, nicht nur seine Schuhe und Strümpfe.
Sein ganzer Frust, seine Müdigkeit und Lustlosigkeit wurden heruntergespült und
versickerten in der Kanalisation.
Danach trafen sie sich regelmäßig.
Sie war freie Journalistin und schrieb für verschiedene Frankfurter Zeitungen.
Ninus fand wieder Spaß am Leben und verliebte sich heftig in dieses rothaarige
Energiebündel, das unberechenbar und unzähmbar war. Sie hatten mehrmals mehr
recht als schlecht miteinander geschlafen. Bis sie ihm eines Tages eröffnete,
sie fühle sich sexuell eher zu Frauen hingezogen. Sie habe es geahnt, es sich
jedoch nicht eingestehen wollen. Auch sie habe sich in Ninus verliebt. »Aber
anders eben. Irgendwie freundschaftlich verliebt, wenn es das gibt«, hatte sie
versucht, ihm ihre Gefühlswelt zu erklären, als sie sein bestürztes Gesicht
gesehen hatte. »Wirklich, Ninus. Du bist mir der liebste Mensch. Ich fühle mich
in deiner Gegenwart sicher und geborgen. Du bist mir vertraut. Ich genieße es,
wenn du mir über die Haare streichelst, wenn du mich berührst. Es ist nicht
erotisch. Es ist … ach, ich kann es nicht beschreiben. Ich liebe dich,
allerdings nicht, wie eine Frau einen Mann liebt. Eben wie einen intimen
Freund. Vielleicht ist das mehr, viel mehr als die geschlechtliche Liebe.«
Lena hatte tief geseufzt, ihn
zaghaft umarmt und ihm ins Ohr geflüstert: »Bitte bleibe mein Freund.«
Die Tür zum OP ging
auf. Ein junger, müde wirkender Arzt kam
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