Sonst kommt dich der Jäger holen
weit weg von daheim bist.«
»Nee du«, widersprach Felix. »Flach ist es in Kiel nicht. Das ist Ostsee. Da ist die Küste hügelig, so ähnlich wie bei uns. Aber klar: Einer wie der braucht ständig seine steife Brise, der braucht den Blick aufs Meer und Möwen, schnell ziehende Wolken und einen ganz anderen Himmel als unseren. Der braucht schwarz-weiße Kühe, die da oben schwarz-bunte heißen, keine braun-weißen, die da oben rot-bunte heißen. Der braucht Windräder und keinen Föhn.« Die letzten Sätze hatte Felix in Platt gesprochen, und Johannes hing bewundernd an seinen Lippen.
»Also so würd es mir gehen«, schloss Felix.
»Mir auch«, sagte Johannes. »Die Entfernung ist wirklich kein Katzensprung.«
»Aber es ist machbar. Laura hat das gecheckt. Er ist mit dem Nachtzug gefahren und manchmal geflogen.«
»Schade.«
»Gut mitgedacht, Johannes. Ruf doch bei Gelegenheit mal in Kiel an. Frag die Beamten, die der Witwe die Todesnachricht überbracht haben, ob ihnen irgendwas aufgefallen ist. Eventuell hat Claudia sich erkundigt, dann müsste es eine Notiz geben.«
»Mach ich.«
Felix betrachtete eine Aufnahme, die Gerd Jensen und seine Frau zeigte. Claudia hatte das Foto aus der Wohnung in Drößling mitgenommen, als sie noch wenig über das Opfer wussten. Wie immer, wenn Felix mit Zeugnissen aus dem Leben eines Menschen konfrontiert war, in dessen Mordsache er ermittelte, wurde ihm bewusst, wie dünn das Eis war, das ihn vor dem Einbrechen schützte. Als junger Polizist hatte er manchmal in den Gesichtern der späteren Opfer nach Spuren gesucht, die ihr Schicksal ankündigten. Es gab solche Spuren nicht. Nicht bei den Gewaltverbrechen, die Felix aufklärte.
»Ich werde noch mal mit dem Franz Brandl reden«, sagte Felix zu Johannes. »Das ist der …«
»Starverkäufer. Ich weiß. Der den Gerd Jensen nicht gemocht hat.«
Felix legte das Foto der Jensens auf den Stapel der Unterlagen, die er gesichtet hatte, und nahm eine der Aufnahmen vom Tatort zur Hand. Gerd Jensens schlammbespritztes Gesicht, er hatte sich im Fallen zur Seite gedreht und zusammengekrümmt. »Auf den ersten Blick sah es nach Jagdunfall aus«, sinnierte Felix.
»Warum mag die Claudia das nicht, wenn einer so zusammengefaltet daliegt?«, fragte Johannes.
»Ach, das mag sie nicht?«
Johannes zuckte mit den Schultern und stand auf. »Also ich glaub, ich geh dann mal, wenn es dir recht ist?«
»Freilich. Und dank dir schön für deine Unterstützung. Hast lang durchgehalten.«
Johannes, schon in der Jacke, blickte auf das Foto von Gerd Jensen und seiner Frau. »Die sehen … nett aus.«
»Ja«, nickte Felix und dachte, dass sie genauso aussahen, wie Paare aussehen, die lange zusammen waren. Irgendetwas in ihren Gesichtern hatte sich angeglichen. Bei keinem gab es ein herausstechendes Merkmal. Ein Durchschnittsehepaar in den späten Fünfzigern, sie brünett, wahrscheinlich gefärbt, er leicht angegraut, beide schlank, sportliches Aussehen. Beide hatten einen gewissen Ausdruck um die Augen, schwer zu sagen, was der bedeutete, Gelassenheit oder Resignation.
Ich hab niemand, dem ich wegen der gemeinsam verbrachten Zeit ähnlich sehe, ging es Felix durch den Kopf. Und ob ich das noch hinkriege? Es dauert eine Weile, bis die Isar ihre Kiesel geschliffen hat.
Als Johannes zu seinem Auto ging, sah er, dass nun noch ein zweites Licht brannte auf dem Stockwerk, im Besprechungszimmer. Wahrscheinlich die Putzleute. Gähnend und heilfroh, dass er das Wochenende freihatte, sperrte er seinen Seat auf. Aber am Montag, nahm er sich vor, bin ich um acht da, spätestens.
Felix stand vor der großen Tafel im Besprechungszimmer und starrte auf das Material, das sie zusammengetragen hatten. Das Foto von Gerd Jensen. Das Gebäude der Waffenschmiede. Der Tatort mit Zufahrtswegen. Schließlich die beteiligten Jäger und andere Zeugen, Hinweisgeber, Auskunftspersonen die sie vernommen hatten. Ein Riesenhaufen Fakten, ein Heuhaufen sozusagen. Und nirgends eine Verbindung. Wenn bloß nicht der schlimmste aller Fälle eingetreten war, nämlich dass irgendein Misanthrop seine Waffe an dem Erstbesten, der ihm begegnet war, ausprobiert hatte. Und auch den würden wir kriegen, dachte Felix. Wir kriegen sie alle. Früher oder später … Aber es war schon recht spät. Gerd Jensen war bald eine Woche tot. Sie hatten zu wenig Handfestes dafür, dass es am Anfang so leicht ausgesehen hatte. Daran waren die Jäger mit ihren Geschichten schuld. Natürlich hatten
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