Sonst kommt dich der Jäger holen
Eindruck, was auch Flipper nicht entging. Irgendwann stand er auf, kam langsam näher, mit einem Blickwechsel verständigte ich mich mit der Erzieherin, abzuwarten, und legte sich dann vor Sandrine, die schockstarr die Augen aufriss, ins Platz.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, meinte die Erzieherin.
»Flipper, geh weg«, befahl ich ihm.
Mit langsamen Bewegungen zog er sich zurück.
Als der Kuchen gegessen war, brachte ich mein Anliegen vor. Ich schüttete die Tüte mit den fünf Patronenhülsen, die ich mir von Sepp Friesenegger aus dem Schießkino erbeten hatte, auf den Boden.
»Das kennen wir schon! Das verliert der Jäger!«, rief ein Mädchen.
»Das kommt in ein Gewehr rein und dann, bumbum«, ein Junge mit Brille sprang hoch und zielte auf mich.
Aus der Hüfte schoss ich zurück. Der Junge starrte mich verblüfft an, dann fasste er sich an die Brust und legte einen bühnenreifen Tod hin, Signal für eine wilde Schießerei, bei der es Flipper sehr schwerfiel, im Platz zu bleiben.
»Nicht so laut!«, rief Tina viel zu leise. »Ich unterhalte mich doch gerade!« Sie wandte sich an mich: »Wieso zeigen Sie uns das?«
»Ich wollte Sie bitten, falls Sie in nächster Zeit so was hier finden, es einzusammeln.«
Die Erzieherin wurde blass. »Sie meinen also … das könnte mit dem … Jagdunfall zu tun haben?«
»Ja.«
»Sind Sie Polizistin? Mit Ihren Kollegen habe ich bereits gesprochen. Die haben mich am Morgen nach meinem Urlaub aus dem Bett geklingelt.«
»Nein, ich bin keine Polizistin. Aber ich habe ein starkes persönliches Interesse daran, dass die Tat aufgeklärt wird. Um die Tatwaffe zu ermitteln, braucht die Polizei eine Patronenhülse.«
»Entschuldigung, aber wir sind ein Waldkindergarten, keine Spurensicherung. Wir haben zwei Versammlungen abgehalten, ob wir nach dem Vorfall überhaupt noch mal herkommen in diesem Jahr oder erst im nächsten Frühling starten. Wir haben hier noch nie Probleme gehabt, die Absprache mit den Jägern ist prima. Das war regelrecht gruselig, als ich den Polizisten unsere Tarzan-Bäume zeigen musste.«
»Tarzan-Bäume?«
»Wir haben ein Baumhaus. Und da kann man auch ein bisschen schaukeln. Meine Kolleginnen und ich sind doch nicht auf die Idee gekommen, dass wir damit Spuren verwischen beziehungsweise welche legen.«
»Wenn Sie eine solche Hülse finden, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, was dahinterstecken könnte, und sie nicht mitnehmen und in einem Ihrer Kunstwerke verarbeiten. Darum möchte ich Sie bitten, denn ich vermute, die Polizei wird Sie wohl kaum um Ihre Mitarbeit ersucht haben.«
Tina grinste. »Nein, das wäre wirklich unkonventionell. Waldkindergartenkinder als Polizeispitzel!«
»Es ist ja nicht gefährlich für Sie und die Kleinen«, fuhr ich fort. »Ich hab schon verstanden«, unterbrach sie mich. »Okay. Unter einer Bedingung.«
»Ja?«
»Sie kommen noch mindestens zweimal zu uns, am besten noch im September, bis 15. Oktober sind wir bei schönem Wetter immer hier draußen. Ich möchte, dass wir versuchen, Sandrine ihre Angst zu nehmen.«
Ich streckte meine Hand aus. »Abgemacht.«
50
Als Felix sein Handy am Mittwochabend einschaltete, zeigte es mehr als ein Dutzend Nachrichten an. Einige kamen von F & F , und ihm wurde heiß. Als Melanie damals von ihrer Frauenärztin erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte sie ihn sechsunddreißig Mal angerufen, doch er war bei einer Observation und konnte erst am nächsten Tag ans Telefon. Das hatte sie ihm nie verziehen. Wenn er es recht bedachte, hatte damit alles begonnen. Ihre zunehmende Wut auf seinen Job. Was sie zu Beginn sexy gefunden hatte, ein Kommissar! , warf sie ihm bald schon vor. Nie bist du da. Nie hast du Zeit. Überall muss ich immer allein hingehen! Später hatte er herausgefunden, dass sie gehofft hatte, er werde bei der Polizei aufhören, wenn das Kind da wäre. Was für eine Idee! Wovon sie leben sollten, hatte er sie gefragt. Da würde sich bestimmt was finden, hatte sie erwidert. Man müsste das eine erst mal loslassen, dann käme das andere schon. Felix hatte Sinah nicht gewollt, nicht zu diesem Zeitpunkt. Kinder ja. Später. Aber als er die Nachricht verdaut hatte und als Melanies Bauch wuchs, da hatte er begriffen, dass es den richtigen Zeitpunkt wahrscheinlich nie gab. Er war Melanie unendlich dankbar, dass sie keine Sekunde daran gedacht hatte, das Kind abzutreiben: Ich krieg es auf jeden Fall – ob mit dir oder ohne dich. Da war ihm die
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