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Sonst kommt dich der Jäger holen

Sonst kommt dich der Jäger holen

Titel: Sonst kommt dich der Jäger holen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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sicher sein, dass mich niemand ertappte, wenn ich über den Zaun kletterte. Flipper hatte im letzten Jahr bei den neuen Pächtern die Erlaubnis erlangt, dass wir uns auf die Wiese setzen durften. Ich holte mir eine Plastikplane aus der Laube; das Gras war feucht. Ich würde so lange bleiben, bis ich Erdbeeren roch, mitten im September. Das war möglich, ich wusste es. Die Erdbeerbeete hatte meine Oma für mich angelegt, am Gartenzaun, wo heute eine Hecke wuchs. Wenn ich traurig war, hatte meine Oma mich gefragt: »Soll ich dir a Erdbeer brocken, Franzi?«
    Das hatte sie auch im Winter gefragt, denn sie konnte Beeren sogar aus der Luft brocken und mir in den Mund stecken. In meiner Erinnerung schmeckten die aus der Luft am köstlichsten. Meine Oma hatte nicht an ihre eigene Lebensplanung gedacht. Sie hatte sich meiner einfach angenommen, als es nötig war. Schön, dassd da bist, Franzi. Es gab Fragen, die durfte man wahrscheinlich nicht stellen. Und es gab Antworten, die hätte man lieber nicht gehört. Ich sei die richtige Frau zum falschen Zeitpunkt. Obwohl ich sie gelöscht hatte, konnte ich Felix’ SMS auswendig. Ein Mensch war immer richtig. Und genauso würde ich es halten. Da brauchte ich keinen Felix dazu, das würde ich auch alleine schaffen, wie meine Oma es geschafft hatte mit mir. Und natürlich würde ich Flipper nicht weggeben müssen. Das waren alles Hirngespinste.
    »Oma«, flüsterte ich in die Nacht. Flippers Winseln drang an mein Ohr.
    »Pscht!«, mahnte ich ihn zur Ruhe, doch er hörte nicht auf, gab es nur vor, indem er mit langen Pausen fast lautlos winselte. Es hätte auch der Wind sein können.
    »Ist jetzt amal a Ruh!«
    Nein, war es nicht. Flipper störte meine Konzentration. Offenbar hatte er etwas dagegen, dass ich tief in mich hineinhorchte, um herauszufinden, ob sich Zellen in meinem Inneren teilten, aus denen ein neuer Mensch entstehen würde. Genervt sprang ich hoch, strauchelte, mein linker Fuß war eingeschlafen. »Wie soll ich denn da klar denken können!«, fauchte ich ihn an. Er ließ die Ohren hängen und trollte sich. Sein Ziel hatte er erreicht. Ich schenkte mir einen weiteren Versuch der inneren Sammlung. Humpelnd verstaute ich die Plastikfolie in der Laube. Tock, tock, tock. Flippers Rute schlug an eine leere Gießkanne. Plötzlich erkannte ich, dass ich doch eine Antwort bekommen hatte. »Über ungelegte Eier«, hatte meine Oma oft gesagt, »soll man sich den Kopf nicht zerbrechen, Franzi.«
    Es war unklar, ob das Ei gelegt war oder nicht. »Und deshalb radeln wir jetzt heim und spinnen nicht mehr rum, und morgen früh kaufen wir für die Frau Marklstorfer ein«, gab ich die Parole aus. Die alte Dame, meine neue Nachbarin, war mir sehr ans Herz gewachsen. Ich schaltete mein Handy an, um die Uhrzeit abzulesen, da sah ich, dass Felix angerufen hatte. Im Grunde genommen war alles ganz einfach. Wenn man nicht darüber nachdachte.
    Die Mariahilfkirche schlug dreiviertel zwölf, als ich vom Rad stieg und es die letzten Meter zur Hofeinfahrt schob. Später dachte ich, dass mir da schon irgendetwas merkwürdig vorgekommen war, aber ich wusste nicht, was. Sicher, die Hoftür war angelehnt, doch das war sie öfter. Auch Flipper schien etwas zu merken. Abrupt blieb er stehen, obwohl er normalerweise vorausrannte, um als Erster beim Fahrradschuppen zu sein und ihn mit der Pfote für mich zu öffnen. Ich hielt die Schlinge zuerst für einen Schatten, vielleicht von einem Fahrradschloss, doch sie bewegte sich. Ich erkannte den Stiel und sah die Beine. Vier Stück. Und dann explodierte etwas in meinem Innersten, und es gab nur noch meine Reflexe. Zwei Kerle um die eins fünfundachtzig, Kraftpakete, kamen von rechts und links auf mich zu. Zielstrebig und aggressiv. Flipper knurr-bellte. Ich überlegte nicht den Bruchteil einer Sekunde, schleuderte mein Fahrrad weit weg von mir. Der erste grobe Rempler zielte an meine rechte Körperseite. Ich blockte den Schlag mit rechts und setzte mit der linken Faust nach, auf den Solarplexus meines Gegners. Volltreffer. Ich kam tief rein, und er stieß einen dumpfen Laut aus. Zur Sicherheit verpasste ich ihm einen Kniestoß in die Rippen. Es krachte. Schätzungsweise zwei gebrochen. An seinem Ächzen konnte ich hören, dass er für eine Weile außer Gefecht gesetzt war. Und noch länger, denn Flipper, eine schwarze Bestie mit gesträubtem Fell und gefährlich zurückgezogenen Lefzen, sprang nach vorne. Und biss zu. Brüllend versucht der Mann, Flippers

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