Sonst kommt dich der Jäger holen
waren und nicht eingegriffen hatten? Wie viele Fotos von wie vielen Orten hatten sie noch von mir? Präzisieren Sie das. Seit wann interessierten sie sich für mich? Nennen Sie Namen und Orte. Was wollen Sie von mir? Konkret! Präzisieren Sie! Wer steckt dahinter? Nervös lief ich in meinem Wohnzimmer auf und ab. Was bedeutete das alles? Ich war Fitnesstrainerin, kein Spitzel. Ich arbeitete nicht für die Russenmafia, und ich hatte auch keinen Polizeifreund, der mir Geheimnisse anvertraute, die ich womöglich ausplaudern konnte. Warum hatten sie mich nicht über meine Rechte belehrt? Das hätten sie tun müssen, das wusste ich von Felix, das musste immer gemacht werden, auch wenn es im Fernsehen unter den Schneidetisch fiel. Warum hatten sie mich nicht einmal nach dem Überfall gefragt? Wussten sie nichts davon, weil ich ihn auf meiner Polizeiinspekton angezeigt hatte? Wie waren die alle miteinander vernetzt? Ich musste Felix fragen, ob ich mich strafbar gemacht hatte. Ich tippte seine Nummer ein. Trennte die Verbindung. Ich durfte ihn nicht anrufen. Nicht von hier.
»Hallo, hört ihr mich?«, fragte ich, vermutlich mit einem irren Grinsen im Gesicht, in den Flur, und Flipper wedelte leicht. Er mochte es, wenn ich mich nah an der Pforte zum Gassi aufhielt.
Und wenn sie schon einmal da gewesen waren? Gestern, vorgestern, irgendwann. Wenn die Wanzen längst installiert waren, vielleicht waren sie gekommen, sie diskret zu entfernen? Gab es Geräte, mit denen sie die ausschalten konnten, nicht fernzünden, sondern fernstoppen? Heutzutage war mehr möglich, als ich mir ausmalen konnte. Und ich konnte mir immer besser vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn man durchdrehte.
Ich versuchte klar zu denken. Wenn sie die waren, für die sie sich ausgegeben hatten, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Ich war eine deutsche Staatsbürgerin und noch nie mit der Staatsmacht kollidiert. Ich hatte nichts zu befürchten. Wobei man das nie wusste. Ich hatte mal ein Radiofeature gehört auf dem Weg zu Anton Dürr, das war so spannend, dass ich das erste und einzige Mal zu spät gekommen war, weil ich bedeutend langsamer als gewöhnlich fuhr. Da war ein Mann unverschuldet in die Fänge des Verfassungsschutzes geraten und rund um die Uhr überwacht worden. Alles, was er trieb, schien verdächtig. Sobald ein Anfangsverdacht bestand, konnte man jede Begebenheit so drehen, wie man wünschte; im Prinzip war jeder Mensch verdächtig, man musste es nur aus dem falschen Blickwinkel betrachten. Hatten die meine Konten bereits überprüft und sich gefragt, warum mir ein hochkarätiger, angesehener Anwalt mit Mafiakontakten monatlich Geld überwies? Erpressung? Quatsch. Sicher gab es ein Foto von ihm und mir auf dem Trimm-dich-Pfad. Tarnung?
Ich musste mir ein Zweithandy besorgen. Sofort. Aber wie? Wenn ich eins mit Karte kaufte, musste ich meinen Ausweis vorlegen. Eins klauen? Woher wusste ich aber dann die Nummer? Ich konnte nicht davon ausgehen, dass alle ihre eigene Nummer unter »Ich« gespeichert hatten, das sollte ich auch mal ändern. Für ein legales Handy aus dem Shop brauchte ich einen falschen Ausweis. So zwangen sie mich in die Kriminalität und hätten zum Schluss recht mit ihrem Anfangsverdacht. Andrea hatte drei oder vier Handys. Ich wählte ihre Nummer, drückte den roten Knopf, als sich die Verbindung aufbaute. Ob sie Nummern auch speicherten, wenn niemand abhob? Ob sie auch meine Versuche dokumentierten? Selbstverständlich konnte ich Andrea nicht von meinem Telefon anrufen und fragen, ob sie mir eines ihrer Handys leihen würde. »Vorsicht«, ermahnte ich mich selbst. Flipper sprang auf die Beine. Vorsicht kannte er. Vorsicht hieß es, wenn er sich auf der schmalen Brüstung der Isarbrücke neben mir sitzend umdrehte. Oder wenn er über einen Baumstamm balancierte. Vorsicht machte Spaß. Ich sagte es noch einmal. Bloß nicht einschüchtern lassen. Dann zog ich meine Joggingklamotten an. In denen fühlte ich mich gewappnet. Ich konnte sehr schnell rennen. Wenn sie mir tatsächlich auf den Fersen bleiben wollten, bräuchten sie einen fitten Kameraden. Nach zirka fünf Kilometern merkte ich, dass ich viel zu schnell gelaufen war, und drosselte das Tempo. Eine Pinkelpause hinter einem Baum überzeugte mich davon, dass uns niemand folgte.
Ich lief einen Halbmarathon. Ich fand das selbst zu lang, doch ich musste immer weiterrennen. Rennen tat gut. Es reinigte und erhellte die Zukunft, Schritt für Schritt. Ich würde heute
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