Sophie Scholl
hat.
Der zweite ausführliche Komplex des Briefes gilt einem Ereignis ganz früh am Ostersonntag. Sie war mit Inge Scholl in der katholischen Kirche von Ulm-Söflingen, die sie vom Orgelspielen im Sommer 1940 mit Inge und Otl Aicher gut kennt, und hat zum ersten Mal die Osterliturgie miterlebt. Sie nennt es einen »wirklichen Gottesdienst« im Gegensatz zum »Vortrag« in der evangelischen Kirche und bekennt der Freundin, sie habe »sehr Bedürfnis nach dieser Art des Gottesdienstes«. Trotzdem gilt auch an diesem Morgen: Sophie Scholl stürzt sich nicht in ihr Gefühl, sondern beobachtet sich selbst auf Distanz. Sie empfindet das Hinknien zwar als richtig, hat aber dennoch »Hemmungen«, sie könnte von Bekannten gesehen werden. Vor allem aber würde das Schauspiel erst dann zu einem tiefen inneren Erlebnis, wenn man den Glauben hat. Sie jedoch lässt sich ablenken und ist deshalb »nie ungeteilt dabei«. Der Gang in die katholische Kirche als Experiment, dessen Ausgang offen ist.
Im Zentrum aller Familien-Überlegungen steht, wie man am besten vorgeht, damit Sophie Scholl studieren kann. Die Befürchtung, dass sie wieder zwangsverpflichtet wird, ist nicht unbegründet. Hans Scholl plädiert am 22. April dafür, mögliche staatliche Willkür zu ignorieren: »Ich fürchte jedoch, dass Du, im Falle dass Du ganz zu Hause bleibst, auch nicht ungeschoren davon kommst. Um all diese Probleme noch einmal gründlich mit den Eltern und mit Dir zu besprechen, werde ich am Samstag nach Hause fahren und Dich am Sonntagabend am besten gleich nach München mitnehmen.« Der ältere Bruder fühlt sich für seine kleine Schwester verantwortlich, und seine Argumente überzeugen. Noch ehe der April 1942 zu Ende geht, fährt Sophie Scholl als angehende Studentin nach München. Zwar hat sie noch kein Zimmer, aber Carl Muth nimmt die Tochter der Scholls gerne auf. Endlich kann er sich ein wenig für die vielen Ess-Pakete revanchieren. Am Ankunftstag begleitet Traute Lafrenz, deren Liebes-Beziehung zu Hans Scholl inzwischen ein Ende gefunden hat, Sophie Scholl in ihr Übergangs-Quartier nach München-Solln.
Dann geschieht etwas Unerwartetes: Fritz Hartnagel bekommt einen kurzen Heimaturlaub, bevor er mit seiner Truppe von Frankreich nach Russland an die Front verlegt wird. Er trifft sich mit Sophie Scholl in Tübingen, von dort reisen die beiden weiter ins vertraute Freiburg und übernachten wie an so vielen Wochenenden seit Oktober 1941 im »Freiburger Hof«. Vielleicht geht es auch noch weiter nach Konstanz. Am Montag, dem 4. Mai, verabschieden sie sich. Sie müssen mit einer langen Trennung rechnen. Sophie fährt nach München, Fritz wird erst am nächsten Tag in Freiburg einen Anschluss-Zug nach Frankreich bekommen. Er geht deshalb für eine weitere Nacht in den »Freiburger Hof« und erfährt so, dass Sophie Scholl ihr Nachthemd vergessen hat. Er wird es nachschicken.
Am 9. Mai 1942 wird Sophie Scholl in München einundzwanzig Jahre alt. Aus Ulm schickt ihr Inge Scholl einen Brief mit einer getrockneten Winde, die sie im Gummibaum in Robert Scholls Büro entdeckt hatte. Die Pflanze bekam Otl Aicher, der ebenfalls im Mai Geburtstag hat. Gern hätte die älteste Schwester aus einem der Gedanken, die sich »während der Tage wie Falter« auf ihre Stirn setzten, eine Geburtstags-Geschichte gemacht, denn »Mai und Mädchen und München und Muth, das reimt sich zu einem Märchen zu gut«. Aber die Arbeit, dieses Ungeheuer, lässt ihr keine Zeit. Und eigentlich brauche Sophie gar keinen Brief von ihr, da sie »bei diesen guten Menschen wohnen und leben kann, da bist Du an der Quelle des Wortes selber«. Das ist, theologisch gesprochen, fast blasphemisch, mag Carl Muth noch so fromm und eindrucksvoll sein. Schnell korrigiert Inge Scholl sich – »ich meine sehr nahe an der Quelle«. Das Ende des Briefes klingt wie eine Beschwörung: »Sofie, ich glaube, so gut wie jetzt haben wir uns noch nie verstanden. Das ist für mich eine große Freude.« Inge Scholl schreibt es nicht zum ersten Mal. Sie will der »Schlange« endgültig den »Giftkopf« zertreten, die keine Chance haben soll, die Geschwister auseinander zu bringen.
Ein Brief von Fritz Hartnagel lässt wiederum wie im Rückspiegel kurze Eindrücke von Sophie Scholls ersten Tagen in München auftauchen. Als er ihr am 10. Mai aus Le Mans schreibt, liegen ihm zwei Briefe von ihr vor. Sein Seufzer – »ach könnte ich nur etwas dazu beitragen, Dir ein friedliches und volles Herz zu
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