Sophie Scholl
»Flugblätter der Weißen Rose« von Hans Scholl und Alexander Schmorell in Umlauf gebracht wurden.
Auf Matrize getippt und abgezogen wurde das Flugblatt in den Tagen nach dem 20. Januar 1943. Bei dem neuen Vervielfältigungsapparat der Firma Geha musste die Farbwalze nicht mehr von Hand geführt werden; er hatte einen Kurbelmechanismus, der eine gleichmäßige Umdrehung der Matrize möglich machte, so dass in zwei bis drei Stunden mehrere tausend Flugblätter gedruckt werden konnten. Auch das geschah spätabends im Zimmer von Hans Scholl. Sophie Scholl und die drei Männer lösten sich an der Maschine ab, ebenso beim anschließenden Falzen und Einstecken der Blätter in die Kuverts, die dann noch verschlossen werden mussten.
Das alles kostete Zeit. Doch über aller Arbeit und Anspannung versuchten die Vier, auf die schönen Seiten des Lebens nicht zu verzichten. Am 19. Januar, einem Dienstag, schrieb Hans Scholl an Otl Aicher: »Wir sind eben aus dem Gebirge zurückgekehrt, braungebrannt und voll neuen Mutes. Am Sonntag kann ich aus Gründen, die ich Dir lieber erzähle als schreibe, nicht aus München wegfahren.« Am gleichen Tag berichtet Sophie Scholl einem gemeinsamen Freund der Geschwister, Alfred – Bobbi – Reichle, von diesem Ausflug: »Es liegt Schnee im Gebirge und die Sonntage verbringen wir in der herrlichen Sonne, die die weißen Hänge von allen Seiten einstrahlt. So geht es uns unverdient gut. Doch wie anders könnte man dies alles erleben, wenn nicht der ewige Druck des Krieges auf einem lasten würde. Oft scheint es mir schwerer, zuzusehen, wie andere leiden, als selbst zu leiden.« Sophie Scholl teilt nicht die Hochstimmung ihres Bruders, den die vielfachen Aktivitäten – Ski-Ausflug und Fortsetzung der Flugblattarbeit am Wochenende – mit Optimismus erfüllt. Sophie Scholl leidet, obwohl sie nicht mehr nur zuschaut.
Die Stimmungen, die sich im Brief Sophie Scholls an Alfred Reichle niederschlagen, sind keine Zufallsmomente. Er beginnt mit einer Entschuldigung, dass sie sich so spät für das Weihnachtspäckchen bedankt – »doch es fehlt mir jeder Antrieb zum Schreiben«. Dann erzählt sie, dass die meisten Abende mit Gesprächen ausgefüllt sind – »wohl würde man manchmal die Einsamkeit vorziehen«. Leer, ohne Freude an irgendwelchen Tätigkeiten, wehmütig, weil sie keine Stunden mehr für sich alleine hat, geplagt von Schuld, das Leiden der anderen in diesem Krieg nicht mindern zu können – diese Gefühle ziehen sich als roter Faden durch Sophie Scholls Briefe.
Auch Otl Aicher, immer noch im Larazett von Bad Hall, bekommt einen Brief an diesem 19. Januar: »Ich bin gerade nicht beieinander, etwas, das mir bis jetzt vollständig unbekannt war. Meine Gedanken springen hierhin und dahin, ohne dass ich richtig über sie gebieten könnte …« Sophie Scholl erklärt ihren Zustand mit Kopfschmerzen. Ob sie das wohl selber glaubt? Zwei Wochen später wird sie an Lisa Remppis schreiben: »Ich befinde mich in einem Zustand der Zerstreutheit, den ich selbst ganz schlecht an mir kenne … und bin oft geneigt, es auf Kopfschmerzen zu schieben, doch das ist natürlich niemals der Grund.« Auch hier gibt sie keine Vermutung über den wahren Grund preis.
Zurück zu ihrem Brief an Otl Aicher. Unvermittelt kommt Sophie Scholl auf »eine ewige Ordnung, in der der eine höher steht als der andere« zu sprechen, »wogegen ich mich früher so heftig gesträubt habe«. Das findet sie »plötzlich gar nicht mehr so absurd, sogar ganz richtig«. Früher hätte sie bei sich Ehrgeiz eher vermisst, nun verwirft sie ihn »ganz und gar« und klagt sich an, früher Gutes getan zu haben, »um in den Augen anderer für gut zu gelten … oder einen guten Menschen einzuholen«. Wieder ein abrupter Schnitt: »Oder glaubst Du, was ich hier zusammenschreibe, ist falsch?« Sie habe dauernd »kleine Reibereien« mit sich selber und »rudere im Trüben herum«, von wenigen Augenblicken abgesehen, wo sie klarer sieht.
Was ist los mit Sophie Scholl? Vom Architekten Manfred Eickemeyer, dem Besitzer des Ateliers in der Leopoldstraße, stammt die Erinnerung, dass Hans Scholl ihn einmal im Januar 1943 um zwei Uhr nachts zu einem Spaziergang im Englischen Garten abgeholt habe. Später habe er Scholl gefragt, ob er nie schlafe. Hans Scholl antwortete, Sophie und er würden sich Spritzen geben, um wach bleiben zu können. Es gibt keinen Grund, diese Aussage zu unterschlagen oder zu tabuisieren. Sophie und Hans Scholl, die
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