Soucy, Gaetan
Sekretär. Im Spiegel traf sein Blick auf seinen halbnackten Körper, gedrungen, haarig, grotesk, dann auf die griesgrämige Miene eines schmollenden, pausbäckigen Babys. (Françoise hätte ihm sofort versichert: »Aber nein, du siehst aus wie Victor Hugo, noch ohne Bart, alle sagen das.«) Er öffnete seinen Koffer. Unter dem Stapel Noten zog er sein Rasiertäschchen hervor, in dem er vergeblich nach dem Pinsel suchte. Dann entdeckte er in der Tasche seines Schlafanzugs einen Umschlag.
Louis streifte sein Nachtgewand über, ohne den Umschlag aus den Augen zu lassen. Er entschied, sich unverzüglich den Bart zu scheren. Er fand jede Menge guter Gründe, nicht bis zum Morgen zu warten, doch konnte er sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Augenblick, da er den Umschlag würde öffnen müssen, hinauszuzögern suchte. Mangels Rasierpinsel musste er sich trocken rasieren. Das aufgedunsene Gesicht im Spiegel, das ihn traurig und erstaunt anschaute, bestätigte seine Ähnlichkeit mit Hugo (dem der ersten Jahre im Exil, dem an Halluzinationen leidenden Geisteskranken auf der Insel Jersey). Hatte er einst daraus eine kindische Befriedigunggezogen, so war ihm diese Ähnlichkeit nun nur eine weitere Bürde. Sie machte ihn als Person nur noch lächerlicher, den Geistesgestörten alter Zeiten gleich, die man aus Hohn in Königsgewänder steckte.
Der Umschlag war nicht versiegelt. Er nahm zunächst den Zahn heraus, der sich darin befand. Ein Zahn aus dem hinteren Kieferbereich, ein Backenzahn aus seiner großen Zeit, dem er wochenlange Qualen und schlaflose Nächte verdankte, das Ganze dreimal im Jahr, ehe er sich entschloss, ihn sich selbst auszureißen. So etwas verbindet, und er hatte ihn liebgewonnen. Er hatte ihn auf den Notenhalter seines Klaviers gelegt wie einen Fetisch. Aufrecht sah er aus wie ein Hinkelstein, und liegend ähnelte er dem abgetrennten Kopf eines Delfins. Die Wurzel war schwarz, mit winzigen Fetzen mumifizierten, granatfarbenen Fleisches. Louis beschnupperte ihn vorsichtig, wie es ein Hund mit einem alten Knochen tut, mit einer kleinen zögerlichen Grimasse. Dann schloss er die Augen und schob ihn sich in den Mund. Er setzte ihn behutsam wieder in die Lücke, in der er sein Backenzahnleben verbracht hatte, und biss die Kiefer zusammen, um ihn tiefer hineinzudrücken und Erinnerungen wachzurufen. Ein erlesener Schmerz ließ ihn aufspringen. Er spuckte den Zahn zurück in seine Hand. Ein Geschmack von Blut hatte sich in seinem Mund ausgebreitet. Als er das Blatt entfaltete, schlug sein Herz weder schneller noch langsamer; er hatte eher das seltsame Gefühl, dass es zitterte .
Mein Liebster,
mein geliebter Mann,
mein großer unendlicher Fluss,
was bloß erhoffst Du Dir von dieser Unternehmung? Zu leiden? Zu leiden, als hätten wir die letzten Monate nicht genug gelitten? Dich zu erniedrigen vielleicht? Wen hoffst Du zu besiegen und welcher Kraft wirst Du am Ende den Beweis erbracht haben? Ein ganzes Leben verband mich mit Dir, und ich habe den Eindruck, als bliebe davon nur ein Faden, der immer länger und dünner wird; wenn Du Dich noch weiter von mir entfernst, wird er vielleicht, wer weiß?, wider jede Hoffnung, wider jede Erwartung zerreißen. Im Namen unserer Liebe, im Namen dessen, was an ihr heilig ist und was durch die vergangenen Monate und durch meine eigene Bedrohung noch heiliger geworden sein müsste, im Namen un seres Kindes bitte ich Dich, Dein absurdes Vorhaben aufzugeben und mir zu Hilfe zu eilen, mir, der Gefangenen der Kälte, die im ewigen Schnee zu versinken droht.
Ginge es nur um die von Crofts! … Aber ich weiß um die Bedeutung, das Gewicht, das Du alledem beimisst, und ich glaube, dass Du einen Weg eingeschlagen hast, der nur zu Deiner Zerstörung führt, und damit auch zu der meinen. Wer bist Du, dass Du glaubst, die moralische Ordnung der Welt, ihr Gleichgewicht auf Deinen Schultern tragen zu müssen? Oh! Ich weiß, Du wirst erwidern, dass es nur um Dich selbst geht, dass Du nur tust, was Deine Pflicht von Dir fordert, die Du im Übrigen Dein Leben lang zu hoch gestellt hast. Dabei vergisst Du, dass ich auch noch da bin, die ich nur durch Dich existiere und die Du in Deinem Sturz mit Dir hinabreißt, wenn Du darauf beharrst, Dich selbst, aus eigenem Bestreben, in den Abgrund stürzen zu wollen. Und inwiefern wird sich, mein Liebster, am Ende des Ganzen am Universum etwas geändert haben?
Ja, komm zurück zu mir … Aber zurück auch an Deine Arbeit, Louis, an
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