Souvenirs
und sagte: «Du bistjetzt mein Sohn.» Äh … ja, okay. Dann konnte es ja losgehen. Aber es berührte mich, dass dieser Mann, der nach dem Tod seiner Frau keinen Geschmack am Leben mehr fand, sich so für uns freute. Er hatte ein so zärtliches Verhältnis zu seiner Tochter. Nach den anfänglichen Irritationen hielt ich mir vor Augen, wie nett er eigentlich zu uns war, und wurde von großen Gefühlen ergriffen. In den Qualen meiner jugendlichen Einsamkeit hatte ich oft davon geträumt, eine andere Familie zu haben, in der ich geliebt wurde und anerkannt war, und nun begegnete ich diesem Mann, der die besten Voraussetzungen mitbrachte, diese Adoptivwärme zu geben. Er war ganz begeistert davon, dass ich in einem Hotel arbeitete. Er fragte:
«Wie viele Sterne hat dieses Hotel?»
«Zwei.»
«Na, dann hat es jetzt drei, wenn meine Tochter da einzieht.»
Ich fand diesen Satz klasse. Einige Monate nannte ich Louise meinen dritten Stern.
Zu Beginn des Sommers heirateten wir. Es gab eine vergnügte Feier im kleineren Kreis. Meine Eltern unternahmen übermenschliche Anstrengungen, um die Stimmung nicht zu ruinieren. Sie lächelten wüst, was das Zeug hielt, wie Vertreter einer Zahnpastamarke. Alle meine alten Schulfreunde, die ich die vergangenen Monate über wenig gesehen hatte, waren gekommen. Ich war reichlich stolz, mein Glück mit ihnen teilen und meine Frau präsentieren zu dürfen.
Meine Frau
zu sagen, erschien mir ganz irre. Ich platzte fast vorGlück. Nachdem ich lange Jahre im Gefühl gebadet hatte, der Anzug meines Lebens sei zu groß für mich, schlüpfte ich endlich in eine gesellschaftliche Existenz. Die Schönheit eines stinknormalen Lebens war mit Händen zu greifen. Louise gab mir ihr Jawort, ich gab ihr meins, wir küssten uns innig, und ich glaubte, dieser Kuss sei der Roman, den ich nicht zuwege brachte.
60
Erinnerungen von Louises Vater
Er dachte oft an den letzten Abend mit seiner Frau. Seit ein paar Wochen hatte er einen Haufen Arbeit und kam spät nach Hause. Er hatte eine kleine Regenschirmfabrik, in der es gerade viel zu tun gab, da die Regensaison hereinbrach. An jenem letzten Abend kam er gegen 23 Uhr nach Hause und wunderte sich, dass seine Frau schon schlief. Normalerweise sah sie fern oder las und ging nicht vor Mitternacht .zu Bett. Als er ins Schlafzimmer trat, wachte sie auf und machte Licht. Sie sah ihren Mann an und fragte: «Hast du Hunger?» Er antwortete, er habe schon im Büro eine Kleinigkeit gegessen, er brauche nichts mehr. Somit löschte sie das Licht, und auch er legte sich kurz darauf schlafen. In der Nacht ist sie plötzlich gestorben. Ihr letzter Satz war also: «Hast du Hunger?» Er dachte andauernd an diesen letzten Satz und fand ihre Art so schön, wie sie sich sanft und ein wenig besorgt nach seinem leiblichenWohl erkundigt hatte. Er sah darin ein Zeichen der liebevollen Fürsorge, mit der sie ihn umhegt hatte. Und nun, da sie nicht mehr auf der Welt war, fühlte er noch immer, wie sie bei ihm wachte.
61
Jetzt sollte ich wohl erzählen, wie der gezügelte Irrsinn des Lebens weiterging, wie ein Tag auf den anderen folgte. Wenn ich meine Erinnerungen zusammenklaube, habe ich das Gefühl, dass die Zeit nach unserer Hochzeit ganz besonders rasant war. Dieses Gefühl, dass die Zeit so schnell vergeht, hatte ich zuvor nie gehabt; als Teenager hatte ich sogar oft das quälend langsame Verrinnen der Sekunden auf der Uhr betrachtet wie jemand, der am Tropf hängt und im Sterben liegt. Vielleicht erkennt man das Glück hauptsächlich daran, dass sich die Zeit beschleunigt? Denn wir waren richtig glücklich; zumindest glaube ich das.
Louise zog zu mir ins Hotel und erreichte ihre Versetzung an die Primo-Levi-Grundschule im 13. Pariser Arrondissement. Sie freute sich, neue berufliche Erfahrungen zu sammeln. Ich glaube, es war auch eine Erleichterung für sie, ein bisschen Abstand von ihrem Vater zu gewinnen. Seit dem Tod ihrer Mutter bildeten sie ein seltsames, im Leid vereintes Gespann, eine marode Welt für sich. Sich davon ein bisschen zu entfernen, tat beiden gut. Ihr Vater begann wieder, Sachenzu unternehmen, Leute zu treffen, das Leben als etwas zu begreifen, das in der Gegenwart stattfand. Er kam uns ab und zu besuchen, und ich mochte ihn von Mal zu Mal mehr. Ich versuchte, alles so einzurichten, dass er sich bei uns wohlfühlte und gab ihm freilich immer eins der besten Zimmer. Am Abend, wenn Louise ihren Unterricht vorbereitete, saßen wir bei einem Glas Wein
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