Späte Sühne - Island-Krimi
sahen.
»Behinderte gehen vor«, erklärte Gunnar grinsend, schob den Stuhl vor sich her bis zu Emil Edilons Tisch und ließ sich auf ihn fallen.
»Hallo, Meister«, sagte Gunnar laut, um Emils Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Der Schriftsteller blickte unwillig von seinen Papieren hoch und sah einen stark ramponierten Gunnar vor sich. Der dicke Stützkragen und das hässliche blaue Auge verliehen dem Kriminalbeamten ein durchaus suspektes Aussehen.
»Hat dich ein Müllwagen gerammt?«, fragte Emil.
»Ich habe eine Denksportaufgabe für dich«, sagte Gunnar, die Frage geflissentlich überhörend.
»Ich wüsste nicht, dass ich um so etwas gebeten hätte«, entgegnete Emil.
Gunnar winkte dem Kellner. »Ich bin hungrig«, sagte er. »Bring mir Spiegeleier mit Speck, zwei Brötchen mit Käse und einen Kopenhagener. Und Kaffee.«
Gunnar griff mit der Hand in seine Jackentasche und zog ein Stück Papier hervor, das er auseinanderfaltete und Emil hinschob, eine Kopie des Blattes mit den Zahlen, die sich der Sonnendichter notiert hatte.
»Das ist eine Wegbeschreibung zu irgendeinem Ort«, sagte er. »Was liest du aus den Zahlen?«
Emil besah sich das Blatt eine Weile. »Ich gebe zwar zu, dass du ab und zu recht unterhaltsam sein kannst«, sagte der Dichter, »aber im Augenblick finde ich dich reichlich langweilig.«
»Hör zu«, sagte Gunnar. »Jemand wird angerufen und erhält Informationen über irgendeinen Ort. Er schreibt diese Zahlen auf ein Blatt. Was bedeuten sie?«
»Das weiß ich doch nicht.«
»Jetzt hab dich doch nicht so. Guck dir das an. Du bist doch so gut in Mathematik.«
Emil sah auf das Blatt. »Einhundertfünfundneunzig«, sagte er nach geraumer Zeit.
»Was?«
»Sollte ich die Zahlen nicht addieren?«, fragte Emil.
Gunnar schüttelte den Kopf. Er sah, dass sich der Kellner mit einem großen Tablett ihrem Tisch näherte. Er stellte zwei Teller, eine große Tasse und eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Tisch. Dann schenkte er den Kaffee ein und fragte, ob sonst noch etwas gewünscht sei.
»Im Augenblick nicht«, sagte Gunnar und wandte sich wieder Emil zu. »Ich erzähl dir eine gute Geschichte, wenn du mir hilfst.«
»Eine Geschichte?«
»Ja, die habe ich vorhin bei uns gehört.«
»Ist sie wirklich etwas wert?«
»Ja, aber du musst dichthalten.«
»Lass hören.«
Gunnar erzählte Emil von der Bandaufnahme, die er kurz zuvor gehört hatte, und zwar in allen Einzelheiten.
»So war das also damals in Sandgil«, sagte Emil nachdenklich.
»Ja, aber du darfst das nicht weitererzählen, zumindest nicht gleich. Es wird sicher heute Abend schon die Runde machen. Mindestens zehn Leute haben es mit angehört, darunter auch einige bekannte Klatschmäuler. Die werden sich nicht lange zurückhalten können.«
»Ich schweige«, sagte Emil.
»Dann also zu den Zahlen.«
»Ja, was war noch damit?«
»Eine Wegbeschreibung.«
Emil sah wieder auf das Blatt. »Inwiefern ist das eine Wegbeschreibung?«
»Das weiß ich eben nicht«, sagte Gunnar.
»In der Stadt?«
»Ich weiß es nicht. Kaum. Eher außerhalb.«
Emil überlegte. »Wie würdest du mir einen Weg beschreiben? Sagen wir, wenn ich zum Geysir wollte?«
»Ich würde dir sagen, du solltest Richtung Selfoss fahren und kurz vor dem Ort links abbiegen.«
»Hat die Straße keine Nummer? Eine Zahl?«
»Doch, das ist die Straße Nummer eins, die ins Südland führt.«
Emil schaute wieder auf das Blatt. »Ist das nicht die Ringstraße?«
»Ja.«
»Die Eins steht in einem Kreis.«
Gunnar sah auf das Blatt. »Was du nicht sagst. Und die anderen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht Kilometerangaben.«
10:30
Im Garten beim Jónshús stand ein Mann vor einer Staffelei und malte ein Bild von einem verschneiten Johannisbeerstrauch. Bei genauerem Hinsehen konnte man auch einige vielfarbige Vögel auf dem Bild erkennen, aber nicht in dem Strauch.
Der Künstler bemerkte, dass Birkir ihn beobachtete.
»Entschuldige, mein Lieber, dass ich dich nicht begrüßen kann«, sagte er. »Das Licht verändert sich so schnell, und ich will es einfangen.«
»Entschuldige die Störung«, sagte Birkir und ging zum Eingang.
Wie zuvor kam Rakel an die Tür.
»Ich habe noch immer nichts von Jón gehört«, sagte sie.
»Diesmal bin ich nicht auf der Suche nach Jón, aber ich muss Fabían leider stören. Es ist wichtig.«
»Fabían ist müde, er schläft. Komm nur herein. Vielleicht kann ich dir ja helfen.«
Rakel führte Birkir in die Küche und bat ihn,
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