Spektrum
wusste bereits, dass echte Liebe sich an einem schwachen Funken entzündet – und folglich konnte auch Talent wachsen. Und er entdeckte in sich Talent, den winzigen Samen eines Talents, den er voller Liebe und Zärtlichkeit hegte, ganz wie er zuvor in sich die Liebe gepflegt hatte. Er hatte Glück. Man schätzte ihn für das, was er tat, die Menschen brauchten ihn, in sein Leben kehrte der Sinn zurück. Dann kam freilich eine Zeit, als der Jüngling zum erwachsenen Mann wurde und begriff, dass er lediglich den Sinn seines Könnens, nicht jedoch den Sinn seines Lebens aufgespürt hatte. Abermals litt er, staunte er sehr. Er jagte dem Sinn des Lebens in Vergnügungen nach, doch sie erfreuten einzig den Körper und avancierten zu einem Sinn nur für seinen Magen. Er wollte den Sinn des Lebens in Gott finden, doch der Glaube freute allein die Seele, wurde nur ihr zum Sinn. Für jenes kleine, beklagenswerte, naive Etwas, das weder Körper noch Seele noch Talent war, für dieses Etwas, das die Persönlichkeit des Mannes ausmachte, fehlte indes jeder Sinn. Er versuchte alles auf einmal, versuchte gleichzeitig zu glauben, zu lieben, sich des Lebens zu freuen und etwas zu schaffen. Doch dem Sinn kam er auch auf diese Weise nicht auf die Spur. Ja, mehr noch, der Mann erkannte, dass von den wenigen Menschen, die in ihrem Leben nach Sinn suchten, noch keiner ihn gefunden hatte.«
»Liegt der Sinn dieser Geschichte darin, dass das Leben bar jeden Sinns ist?«, fragte der Schließer.
»Nein«, entgegnete Martin kopfschüttelnd.
»Vordem hast du von einem Menschen und seinem Traum berichtet«, rief ihm der Schließer in Erinnerung. »Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen diesen beiden Geschichten.«
»Das liegt einzig in deiner Nähe zur Allmacht begründet«, erwiderte Martin. »Dein Leben bietet dir einen Sinn, jedoch keinen Raum für Träume. Die Aranker haben Träume, indes keinen Sinn. Und die Menschen … die Menschen haben sowohl das eine wie das andere.«
»Freuen dich die Träume, die du nicht umsetzen kannst, Martin, und der Sinn, den du nicht zu finden vermagst?«
»Mich freut, dass ich zu träumen und den Sinn zu suchen vermag.«
»Bewegung ist alles«, sinnierte der Schließer. »Deine Geschichte ist noch nicht beendet, Martin.«
»Sie kann auch nicht beendet werden«, behauptete Martin. »Niemals.«
»Jede Geschichte hat einen Schluss«, widersprach der Schließer. »Einsam ist es hier und traurig.«
Martin seufzte, während der Schließer fortfuhr: »Doch ich akzeptiere deine Geschichte unter Vorbehalt. Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort. Solltest du beim nächsten Mal deine Geschichte nicht beenden können, bleibt dir das Große Tor versperrt.«
Martin erstarrte zur Salzsäule. »Du akzeptierst eine Geschichte, die dir nicht gefällt?«, fragte er dümmlich, indem er den Kopf schüttelte.
Der Schließer hüllte sich in Schweigen.
»Wenn ich den Schluss nicht erzähle, kann ich Marge nicht wieder verlassen?«
Der Schließer hüllte sich in Schweigen.
»Erwartest du tatsächlich von mir eine Antwort, welche die gesamte Menschheit nicht zu finden wusste?«
Der Schließer schenkte sich Tee ein.
Martin erhob sich. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, eines der vielen »Geschichtenzimmer« der Moskauer Station.
Möglicherweise sah er es zum letzten Mal. In Händen hielt er lediglich ein Hinfahrticket. Für die Geschichte, die er dem Schließer so voreilig erzählt hatte, existierte keine Fortsetzung!
Unverwandt sah Martin den Schließer an.
Der Schließer hob den Blick. Und lächelte.
»Ich werde dir den Schluss dieser Geschichte erzählen«, versprach Martin. »Das wird in der Welt der Dio-Daos sein, und vor mir wird ein anderer Schließer sitzen. Ich weiß jedoch, dass ich ihn dir erzählen werde. Auf Wiedersehen, Schließer.«
»Auf Wiedersehen, Martin«, sagte der Schließer. »Suche deinen Sinn.«
Im Warteraum war es heute verraucht und voller Menschen. Auf fast allen Sesseln und Sofas saß jemand. Einen Diwan hatte eine Gruppe junger Menschen okkupiert, die sich eines entstellten Russischs, dem sie einen Hauch eines nicht minder entstellten Iwrit beimengten, bedienten. Martin kannte die Sorte nur allzu gut: Auf diese hirnlose Weise amüsierte sich die Jugend in letzter Zeit. Ein in der gegenüberliegenden Ecke sitzender Mann typisch jüdischen Aussehens guckte so angestrengt nicht in die Richtung dieser Gruppe, dass klar war: Er hatte von den Burschen
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