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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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fort. »Er stürzte sich auf alles, das nach seinem Dafürhalten einen Sinn bergen konnte. Er versuchte zu kämpfen, er versuchte, etwas zu erbauen. Er liebte und er hasste, schuf und zerstörte. Und erst als sein Leben sich dem Ende zuneigte, erkannte der Mensch die tiefere Wahrheit. Das Leben hat keinen Sinn. Der Sinn bedeutet stets Unfreiheit. Der Sinn formt stets jenen harten Rahmen, in den wir einander hineinjagen. Wir behaupten, der Sinn läge im Geld. Wir behaupten, der Sinn läge in der Liebe. Wir behaupten, der Sinn läge im Glauben. Doch all das sind nur Rahmen. Im Leben gibt es keinen Sinn, und darin liegt sein höherer Sinn, sein höherer Wert. Im Leben gibt es kein Finale, das wir unbedingt erreichen müssten – und das ist wichtiger als Tausende ersonnener Sinndefinitionen.«
    »Du hast meine Einsamkeit und meine Trauer vertrieben, Wanderer«, stellte der Schließer fest. »Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
    »Das war nur das Ende der alten Geschichte«, erinnerte ihn Martin. »Ich glaubte, um durchgelassen zu werden, müsste ich noch eine weitere Geschichte erzählen.«
    Täuschte Martin sich – oder lächelte der Schließer?
    »Vielen reicht ihr ganzes Leben nicht, um nur eine Geschichte zu erzählen. Jeden Tag beginnen sie sie aufs Neue, finden jedoch nie einen Schluss … Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
    Hatte der Schließer etwa auf seine Frage geantwortet?
    »Hätte ich Kadrach retten können?«, wollte Martin wissen.
    Der Schließer starrte in die Ferne und trank Milch.
    »Ich bleibe nicht gern etwas schuldig«, erklärte Martin. »Ich möchte von denjenigen erzählen, die den Sinn des Lebens suchten. Von einem Geddar, einem Lehrer und Henker, der nicht auf den Sinn verzichten konnte. Von einem Dio-Dao, der den Sinn des Lebens für seine Sippe verändert hat …«
    »Halt ein«, unterbrach ihn der Schließer, worauf Martin mitten im Satz verstummte. »Halt ein, Martin. Noch kannst du diese Geschichte nicht beenden. Setze deinen Weg fort.«
    Mit einem Nicken erhob Martin sich. Mit einem Mal überströmte ihn Schweiß. Ihn dünkte – aber vielleicht war das nicht mehr als ein Gefühl –, er hätte beinahe eine unsichtbare, indes nicht weniger gefährliche Grenze überschritten.
    »Vielen Dank, Schließer«, sagte Martin. »Wir werden uns wiedersehen.«

Fünfter Teil
    Blau

Prolog
     
    Leben in einem Menschen Gefühle der Nostalgie, machen sich diese – von der Emigration abgesehen – nirgends so bemerkbar wie auf Dienstreisen. Urlaubsreisen lassen einen letztlich nicht jene süße Sehnsucht nach der Heimat verspüren, bestürmen einen dafür doch allzu viele Eindrücke, bestaunt man in zu großer Zahl malerische Ruinen, genießt jungen Wein und warmes Meer nur zu sehr. Eine Geschäftsreise hingegen, noch dazu eine missglückte, lässt ein sublimes Verlangen nach der Heimat aufkommen und wachsen, bringt einen bunten Strauß patriotischer Feldblumen oder russophiler Kamillen zum Erblühen.
    Anders als missglückt vermochte Martin seine Reise nach Marge alias Fakiu nicht zu bezeichnen. Alle Fäden hatte er verloren. Wieder einmal hatte er Irina sterben lassen. Nach wie vor verstand er nicht, wovon er eigentlich Zeuge geworden war: von einem göttlichen Wunder oder von den Kapriolen einer fremden Physiologie.
    Nunmehr galt es, sich seiner Wurzeln zu besinnen. Eine volle Brust vom Rauch der Heimat zu inhalieren, ein Gläschen Wodka zu leeren und eine Prise von Mutter Erde zu kosten. Und selbstverständlich einige Monate ununterbrochen in Moskau zu bleiben.
    Oder sich in wärmere, wiewohl nicht allzu ferne Gefilde zu begeben. Jalta wäre trefflich, Odessa oder Sewastopol. Aus irgendeinem Grund hatte Martin Jalta klar vor Augen, die zum Meer hinunter führenden schmalen Gassen, die kleine Kneipe an der unteren Station der Seilbahn, in der sich so angenehm Portwein aus der Kellerei Magaratsch trinken ließ, ehe man zu einem Spaziergang am Ufer des kühlen, einen abgehärteten Schwimmer jedoch noch immer lockenden Meeres aufbrach … Bei dem Gedanken lächelte Martin sogar, zwar schief, aber dennoch erleichtert. Er würde sich Irina aus dem Kopf schlagen. Eine unbeschwerte Urlaubsaffäre würde er anfangen, mit einer kleinen Dame, die unbedingt verheiratet sein musste, folglich nur auf ihr Vergnügen, nicht aber auf dauerhafte Beziehungen erpicht war. Viel starken Wein würde er trinken. Seine alte Bruyerepfeife schmauchen, eine teure, jedoch erstklassige

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