Spektrum
Ihrer Dienstpflicht?«, wollte Martin wissen. »Falls Ersteres zutrifft, könnten wir jetzt in ein Restaurant fahren.«
»Im Moment ausschließlich in Erfüllung meiner Dienstpflicht«, antwortete Juri Sergejewitsch, der Martin die Bemerkung nicht verübelte. »Fahren wir also zu mir, Martin Igorjewitsch, in jenes große Gebäude mit den strengen Onkeln am Eingang.«
Seufzend beschloss Martin, den Tschekisten nicht weiter zu provozieren. Doch als sie vor dem großen grauen Gebäude gegenüber der gut sortierten Buchhandlung Biblioglobus anhielten, in die Martin allmonatlich zum Erwerb neuen Lesefutters pilgerte, setzte abermals etwas in ihm aus. Er kramte nach seinem Portemonnaie und sah den Tschekisten fragend an.
»Woher kommt nur diese Bosheit bei Ihnen? Diese Bissigkeit?«, fragte Juri Sergejewitsch bitter. »Was ist, hat Ihr Urgroßvater unter Repressionen durch das schlimme KGB gelitten? Gehörte Ihr Großvater zu den Dissidenten, hat er Solschenizyn bei sich auf dem Hängeboden versteckt? Hat man Ihren Vater beschuldigt, ein als Umweltschützer getarnter Spion zu sein, und verurteilt? Glauben Sie, der Staat könne ohne Gegenspionage auskommen? Falls es Sie interessiert, ein paarmal bin ich schon losgezogen, um jemanden aufzugabeln. In meiner Freizeit. Denn im Amt zahlt man mir nur ein Zehntel dessen, was Sie verdienen … Wenn man von den realen Einkünften ausgeht, nicht von der Summe, für die Sie Steuern bezahlen …«
Daraufhin schämte Martin sich. Er steckte sein Portemonnaie wieder weg, zögerte eine Sekunde, sagte dann jedoch ehrlich: »Verzeihen Sie. Die Nerven … Schließlich bin ich gerade aus der Station herausgekommen – und Ihnen gleich in die Arme gelaufen. Sie haben mich doch auch absichtlich in der Schlange so lange warten lassen, oder?«
»Richtig«, bestätigte Juri Sergejewitsch. »Aber eine offizielle Vorladung hätte Sie wohl kaum glücklicher gemacht, oder?«
Nachdem Martin darüber nachgedacht hatte, schüttelte er den Kopf.
»Und was zu essen werden Sie kriegen«, versicherte Juri Sergejewitsch immer noch leicht missbilligend. »Schon allein deshalb, damit Sie nicht von uns gleich zur nächsten Bürgerrechtsorganisation rennen … um dort die Staatssicherheit anzuschwärzen, die Verhaftete hungern lässt.«
Der Tschekist log nicht. Nachdem sie an den »strengen Onkeln« – die sich als strenge Tanten erwiesen – vorbeigegangen waren, fuhren sie in einem alten Aufzug in den Keller, in die unterirdischen Tiefen der Lubjanka. Entgegen seinen Erwartungen fand Martin sich nicht in düsteren Folterkammern wieder, sondern in einem kargen, schmucklosen Gang, der sie zu einer durchaus gemütlichen Kantine führte.
Mit einem braunen rissigen Tablett in der Hand warteten sie in einer kurzen Schlange und liefen die üblichen Stationen eines anspruchslosen Essers ab: von den sauber abgespülten, indes noch feuchten Gabeln und Löffeln in Plastikschalen über das Kompott in Trinkgläsern zur Kassiererin mit ihrer weißen Schürze.
Die lang vergessene Atmosphäre einer Kantine begeisterte Martin mit einem Mal. Er nahm sich ein Ei, zwei Hälften, angerichtet auf einem kleinen Teller und mit einem Teelöffel Mayonnaise bemützt, dazu eine Beilage aus Hering und roter Bete, obschon er felsenfest überzeugt war, der Fisch enthalte Gräten, ferner einen Salat mit Vinaigrette, der äußerst frisch und sogar lecker aussah. Bei der Suppe ließ sich Martin von ukrainischem Borschtsch verführen, den höchst vertrauenerweckende Hefeküchlein begleiteten, welche großzügig mit Knoblauch und gehackten Kräutern eingerieben waren. Im Borschtsch schwammen einige appetitliche Fleischstückchen, darüber hinaus wählte auch der vor Martin hergehende Juri Sergejewitsch ohne zu zögern dieses Gericht – und der war immerhin Stammgast. Das Hauptgericht bestach kaum durch Vielfalt, bot Koteletts nach Poltawer Art, Kohlrouladen, bei denen es sich um besagte Koteletts in einem Kohlblatt handelte, das obligatorische Kantinengulasch, das mit echtem Gulasch nichts gemein hat, und Entrecôte mit gedämpftem Kohl.
Martin entschied sich für das Entrecôte.
Zum Nachtisch wählte er, auch hier der anrührenden Atmosphäre längst vergessener kulinarischer Freuden Tribut zollend, ein Törtchen, ein Glas mit Kompott und einen Klecks Gelee, serviert auf einem Tellerchen.
»Sie sind ja kein Kostverächter«, bemerkte Juri Sergejewitsch mit einem Blick auf Martins Teller. Er selbst begnügte sich mit Borschtsch und
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