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Staat.
Dimitriadis ist einer von denen, die im Sommer 2010 demonstrieren gegen die Zumutungen der Regierung. Überall im Land streiken die Transportunternehmer und legen alles lahm, Tankstellen kriegen kein Benzin mehr, Supermärkte keine Frischware, acht Tage lang. Zehntausende Touristen bleiben stecken, Flugzeuge verspäten sich, Schiffe können nicht auslaufen.
Für Fuhrunternehmer wie Dimitriadis gibt es 33 500 Konzessionen im Land, sie wurden zur Zeit der Militärjunta Anfang der siebziger Jahre ausgegeben, seither kamen keine neuen hinzu, obwohl die griechische Wirtschaft heute um ein Vielfaches größer ist als damals.
Die Lizenz wurde zu einer Art Existenzgutschein. Zur Altersvorsorge. Wer in Pension ging, verkaufte seine Konzession an den Meistbietenden, Zulassungen für große Tanklaster wurden für bis zu 350 000 Euro gehandelt. Nun soll, unter dem aus Brüssel und Washington diktierten Schuldenregime, spätestens bis 2014 jeder eine Lizenz erhalten können, der das will, und natürlich sind damit die Preise zusammengefallen. Antonis Dimitriadis würde für seinen Schein derzeit noch 12 000 bis 15 000 Euro erhalten.
Er hat das Papier, das ihm seinen Beruf garantiert, 1993 als Schenkung von seinem Vater erhalten, für den er arbeitete, seit er 13 war. Er putzte den Laster, betankte ihn, fuhr auf dem Beifahrersitz mit durch ganz Griechenland, so wie es jetzt sein elfjähriger Sohn Manolis tut, als wäre es ein Naturgesetz. Natürlich hat Dimitriadis für seinen Vater gesorgt, nachdem der ihm die Zündschlüssel übergeben hatte, schon als Dank für die Lkw-Lizenz, und natürlich würde er dasselbe von seinem Sohn erwarten. Familie ist alles. Es sind vormoderne, fast archaisch anmutende Arbeitsstrukturen, die mit umfangreichen Regelwerken vergesetzlicht und zementiert wurden. So blieb das Familienunternehmen die DNA der griechischen Wirtschaft. Von den 4,4 Millionen griechischen Erwerbstätigen sind rund 1,5 Millionen beim Staat angestellt; ebenso viele arbeiten in Kleinstbetrieben mit einem bis neun Angestellten, wozu auch die Selbständigen gehören. Und diese Leute sollen nun in Wochen verändern, was in Jahrzehnten gewachsen ist, eine Zunft- und Familienwirtschaft umstoßen zu einer Marktwirtschaft, die Brüsseler und Berliner Vorstellungen entspricht.
Der Aufstand der Lastwagenfahrer richtet einen maximalen internationalen Imageschaden an: Bis zum Sommer 2010 war die griechische Krise für die Weltöffentlichkeit noch immer ein ziemlich abstraktes Phänomen geblieben, das vornehmlich auf den Wirtschaftsseiten analysiert wurde. Nun haben die Medien erstmals auch die Bilder dazu, sie zeigen ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs, zeigen wütende Urlauber, leere Einkaufsregale, blockierte Straßen. Militärs, die Kerosin, Benzin und Diesel durchs Land fahren. Sie zeigen ein Land, das nicht funktioniert, auf absehbare Zeit nicht funktionieren wird.
Sie zeigen auch eine Gesellschaft, die dem eigenen Staat tief misstraut. Mit Steuereinnahmen von nicht einmal 30 Prozent der Wirtschaftsleistung hat Griechenland die zweitniedrigste Steuerquote aller Euro-Länder. Den Umsatz des Schwarzmarkts schätzt das Institut für Wirtschafts- und Industrieforschung (IOBE) in Athen auf 59 Milliarden Euro jährlich – ein Viertel der offiziellen Wirtschaft.
Man kann über all dies den Kopf schütteln, über die Griechen und ihre Sturheit und Rückständigkeit, ihre ganze Art des Wirtschaftens, die der mittel- und nordeuropäischen sehr fremd ist. Man sollte sich allerdings noch mehr wundern über die Politik und ihre Macher in Europa, das beharrliche Wegsehen, Verdrängen, Verleugnen über Jahre hinweg.
Die Architekten des Euro und ihre Nachfolger haben die Wette von Maastricht verloren. Sie haben das Volkseinkommen von zwölf Ländern aufs Spiel gesetzt für die Hoffnung, die Märkte würden schon nicht merken, wie zerbrechlich die schöne neue Währung ist. Und was die Gründergarde des Euro im Vertragswerk an Lücken ließ, haben ihre Nachfolger in zehn Jahren genutzt, um den Euro noch anfälliger zu machen.
Die Staatsverschuldung der Euro-Staaten hat sich – allen Regelungen zum Trotz – seit 1997 nahezu verdoppelt, allein in den letzten drei Jahren ist sie um knapp zwei Billionen Euro gestiegen, um 30 Prozent. Ohne die Aufwendungen für die Folgen der Finanzkrise wäre die Wette vielleicht später geplatzt, aber geplatzt wäre sie. Zu groß sind die Konstruktionsmängel des Euro; zu
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