Spiel mir das Lied vom Glück
und ging in Richtung Küche. Wir folgten, als sei sie der Rattenfänger. »Meine wunderbare Nichte Julia hat diese Torte kreiert.«
Staunend standen die Frauen da, dann drehten sie sich zu mir um wie eine Reihe von Nummerngirls. Lange standen sie still und brachten kein Wort heraus.
Das Tolle an meiner Torte war, dass ich fünf Schichten schief aufeinandergesetzt hatte, wobei die Schichten nach oben hin immer kleiner wurden.
Dann hatte ich aus buntem Marzipan unzählige Blumen geformt, die sich kaskadenartig von oben nach unten verteilten. Sie sahen aus, als würden sie vom Wind hin und her geweht. An den Seiten klebten goldene Liebesperlen.
Caroline bückte sich, um die Torte aus der Nähe zu bewundern. »Jede Blume sieht anders aus«, flüsterte sie. »Jede einzelne! Sie sehen echt aus. Als würden sie sogar riechen.«
»Das ist richtige Kunst«, flüsterte Lara. »Schokoladenkunst. Die Farben sind unglaublich, Julia! Wie du sie angeordnet und kombiniert hast … «
»Ich sag es euch!«, verkündete Tante Lydia. »Diese Schokoladentorte ist besser als ein Vorspiel. Meine Nichte macht Besser-als-Vorspiel-Torten, das könnt ihr mir glauben!«
»Gütiger Gott«, stöhnte Katie. »Das können wir doch nicht essen, oder?« Und dann brach sie erneut in Tränen aus.
Na, toll! Zum zweiten Mal hatte ich Katie zum Weinen gebracht. Ich legte ihr den Arm um die Schultern. Ein Stück Schokoladentorte würde sie aufheitern. Bei mir jedenfalls klappte das immer.
Schon als Kind lernte ich, dass ich mich durch das Arbeiten mit Schokolade ablenken konnte. Es begann, als eine der jungen Mütter in unserer Nachbarschaft, Renee, mir ein altes Kochbuch mit Rezepten für Schokoladenkuchen, -pralinen, -muffins und so weiter schenkte. Renee brachte mir das Backen bei.
Die Wände in ihrer Küche waren gelb gestrichen, die blauen Schränke hatten Griffe in Form von Kaffeebechern. Über der Spüle war die Wand rot gefliest. Renee hatte einen netten Mann, drei Kinder, zwei Hunde, vier Katzen und eine Eidechse, die den ganzen Tag auf der Arbeitsfläche saß und alles beobachtete. »Ich bin Mutter aus Überzeugung, Julia. Eine von der härtesten Sorte. Möchtest du mein neues Kochbuch über Crêpes sehen?«
Mit dem Geld vom Babysitten kaufte ich mir selbst Zutaten, um backen zu können, wenn meine Mutter tage- oder wochenlang fort war. Als Renee am Geburtstag ihres Mannes krank wurde, bot ich ihr an, den Kuchen zu backen. Ich schlug die Eier leicht auf, ließ die Butter ganz langsam schmelzen, siebte das Mehl nicht nur ein-, sondern zweimal, vermischte die festen Zutaten löffelweise mit den flüssigen und sah dann zu, wie der Kuchen im Ofen aufging.
Ich verdoppelte die Zutaten für eine dicke cremige Schokoladenglasur und dekorierte den Kuchen mit Kringeln und Klecksen, ohne dass er überladen wirkte, sondern einfach nur lecker aussah.
Als ich ihn Renee brachte, war sie so glücklich, dass sie weinte. Am Sonntagmorgen stahl ich mich davon und ging mit ihr in die Kirche, und danach fing ich an, Plätzchen, Küchlein und Muffins für den Frauenbrunch der Gemeinde zu backen. Ich freundete mich mit den Frauen an, die sich mir gegenüber wiederum mit Kleidung, Essen und Zuneigung erkenntlich zeigten.
Und mit Anrufen beim Jugendamt.
Als meine Mutter herausfand, was los war, zogen wir wieder um. »Die halten sich für was Besseres«, sagte sie und fuhr sich mit zitternder Hand durchs Haar. Ein Auge war geschwollen, weil ihr Freund sie geschlagen hatte. Er hatte auch mich versohlt, aber mir mit Fäusten in den Bauch geboxt, damit man die blauen Flecken nicht sah. »Du bist eine Herausforderung für diese Weiber, nicht mehr und nicht weniger. Sie glauben, dass du in die Hölle kommst und sie dich davor bewahren müssen. Wieso mögen sie dich überhaupt? Du bist doch immer so dreckig. Du kannst nicht lachen. Dein Haar sieht unmöglich aus … «
Ich weinte heimlich, als wir fortzogen, aber Renee hatte mir etwas geschenkt, das wertvoll für mein Herz und meine Seele war: eine Fahrkarte ins Leben in Form von Schokolade.
Mit Schokolade zu arbeiten beruhigte mich. Warme, geschmolzene, zähflüssige Schokolade und die Erinnerung an Renees rot-blau-gelbe Küche mit der stets aufmerksamen Eidechse – das hatte etwas, das mich tief in der Seele berührte. Wann immer ich das Gefühl hatte, die Verzweiflung würde mich zu einem Nichts zerdrücken, nahm ich ein Rezeptbuch in die eine und Schokolade in die andere Hand.
Man könnte sagen,
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