Spiel um Macht und Liebe (German Edition)
jetzt unsagbar lange her vor – hatte sie ihm kleine Nachrichten daraufgeschrieben. Manchmal in riesigen Buchstaben und manchmal klein und versteckt in Herzform. Einige waren anzüglich und in einer Sprache geschrieben, die nur sie beide verstanden.
Heute war das Notizbrett leer.
Genau wie das Haus und ihr gemeinsames Leben.
Langsam und abwesend ging er nach oben. Er musste sich umziehen und noch einmal duschen. Der Geruch von Whisky klebte noch an seiner Haut und in seinem Mund. Er wollte diesen Geschmack loswerden. Ob er mit einer Scheidung auch den Schmerz ihrer Ehe loswerden konnte?
Das Schlafzimmer war genau wie die Küche tadellos aufgeräumt und leer. Im angrenzenden Bad hing noch ein schwacher Duft von Lucys Parfüm in der Luft. Giles schloss die Augen, um das Bild von Lucys Körper zu verdrängen. Er roch ihren Duft, spürte ihre Wärme, ihren weiblichen Körper. Innerlich sah er, wie sie sich bewegte, wenn sie erregt war, wie sie ihn berührte und umarmte. Er hörte förmlich ihre kleinen erstickten Schreie der Lust.
Er hatte zu zittern angefangen. Kalter Schweiß brach auf seiner Haut aus und lief ihm über die Stirn, während er krampfhaft versuchte, diese Übelkeit loszuwerden.
Fünfzehn Minuten später schloss er frisch geduscht und in sauberen Sachen die Badezimmertür hinter sich.
Wo immer Lucy auch sein mochte, sie war nicht für immer gegangen. Ihre Kleider waren noch in den Schränken.
Vielleicht war sie zu einer Freundin gegangen.
Mit einem Fuß schon auf der obersten Treppenstufe blieb er stirnrunzelnd stehen, als er bemerkte, dass die Tür zu dem Zimmer, das einst als Kinderzimmer hatte dienen sollen, nur angelehnt war. Er ging zurück und blieb vor der Tür stehen. Nach Nicholas’ Tod war er aus dem Krankenhaus gekommen und hatte gründlich alles aus dem Zimmer entfernt. Selbst die Tapete hatte er abgerissen und seine Trauer darin ausgelassen, die bunte Tapete, das Regal mit Spielsachen und alles andere zu zerstören. Es war ihm alles wie eine böse Scheinwelt vorgekommen, in der ein Kind sicher und glücklich war.
Die Welt seines Kindes war nicht so gewesen. Sie war voller Schmerz und Tod.
Giles stieß die Tür auf und ging hinein. Dann blieb er unvermittelt stehen. Lucy lag zusammengerollt im Schaukelstuhl und schlief. Dieser Stuhl war seiner Zerstörungswut entgangen, weil er in einer Werkstatt für das Kinderzimmer renoviert und gesäubert worden war.
Lucys Gesicht war ungeschminkt und ihr lockiges Haar zerzaust. Sie sah eher wie ein Teenager als wie eine Frau aus, und er musste gegen den Drang ankämpfen, ihr die dichten Locken aus dem Gesicht zu streichen. Am liebsten hätte er diesen Körper, der klein und zusammengerollt vor ihm lag, mit beiden Armen umschlossen. Sie war blass, und ihre Haut wirkte ohne Make-up wie Milch. Ihre Wimpern waren lang und dunkel, der Mund rot und sinnlich.
In der Hand hielt sie ein Papier, und andere Papierschnipsel lagen auf dem Boden vor ihr. Verdutzt bückte er sich und hob einen von ihnen auf. Sein Herz raste, als er erkannte, dass es ein Stück ihrer Heiratsurkunde war.
Langsam hob er jeden einzelnen Schnipsel auf und legte sie auf dem Fensterbrett wieder zusammen, wobei er die zerknüllten sorgfältig glatt strich. Schließlich hatte er alles wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt.
Er blickte auf Lucys Hand und zog sanft das Papier heraus, das sie noch festhielt. Es war die Sterbeurkunde ihres Babys.
Giles konnte spüren, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Er wollte sie streicheln und umarmen und ihr gestehen, wie sehr ihn die Schuldgefühle und der seelische Schmerz bedrückten.
Wieso hatten sie nie über den Verlust ihres Sohns gesprochen? Er hatte es nicht getan, weil er sie nicht bekümmern wollte. Er hatte einfach nicht gewusst, wo er hätte ansetzen sollen.
Und Lucy hatte sich benommen, als sei nichts geschehen, als habe es nie ein Kind gegeben, das gleich nach der Geburt hatte sterben müssen.
Gestern war Nicholas’ Todestag gewesen. Diesen Tag hätten Lucy und Giles zusammen verbringen sollen. Stattdessen hatten sie es nicht erwähnt. Und jetzt war es zu spät. Oder nicht?
Leise ging Giles aus dem Zimmer und hinunter. Er verließ das Haus und stieg ins Auto.
In der Großgärtnerei war viel Betrieb, und er brauchte lange, um einen Parkplatz zu finden.
Lucy war von ihnen beiden die Gärtnerin, aber er wusste genau, was er wollte.
Ob er auch wisse, wie groß das werden könne, wollte der Verkäufer zweifelnd wissen.
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