Spieltrieb: Roman
Ledertasche nicht am Riemen über der Schulter, sondern wie ein Kind am ersten Schultag vor die Brust gedrückt. Unter dem linken Auge saß eine bläuliche Schwellung. Sie hatte nichts davon erzählt, so hart im Gesicht getroffen worden zu sein. Olaf vermutete, dass sie es am Vortag selbst nicht bemerkt hatte, und auch damit lag er richtig.
Ada hatte die Verformung ihrer Wange im Badezimmerspiegel entdeckt und sich die Mühe gespart, der Mutter gegenüber zu behaupten, sie sei die Wendeltreppe hinuntergefallen. Stattdessen verkündete sie rundheraus, nicht darüber sprechen zu wollen, und hinterließ die Mutter weinend über der aufgeschlagenen Zeitung, wobei ihr die frisch aufgetragene Wimperntusche in Streifen das Gesicht hinunterlief. Es tat Ada weh zu wissen, dass die Einbildungskraft der Mutter die Wirklichkeit um Längen übertreffen würde. Trotzdem gab es keine Möglichkeit, von der Wahrheit Bericht zu erstatten. Warum es also versuchen.
Olaf trat ihr einen Schritt entgegen und begann ohne Begrüßung und Einleitung zu reden. Er plauderte drauflos, als wären sie alte Bekannte, als hätte diesmal er vor der Tür gewartet, um etwas loszuwerden, das er nur ihr erzählen konnte. Es ging um einen Jungen namens Rocket, der bei einem jungen Geschichtslehrer namens Klinger, von dessen Homosexualität die ganze Schule wusste, regelmäßig in den Pausen vorsprach, um durch geschicktes Wackeln mit seinem kleinen Musikerarsch die Note der mündlichen Mitarbeit aufzubessern. Während dieser sinnlosen Schilderung suchten Adas Blicke in seiner Miene verwirrt nach der Hilfefunktion.
In der nächsten Minute hatte sie begriffen, was er mit diesem Überfall bezweckte. Die Pausenklingel, eine altmodische, salatschüsselgroße Metallhaube an der Wand, auf die seitlich ein besessenes Hämmerchen prügelte, schrillte ihr penetrantes Geräusch. Joe ging an ihnen vorbei, blieb unwillkürlich stehen, als sie Ada erkannte, und lauschte dem Gespräch. Und dann hat er ihn tatsächlich. Zu gern hätte ich sein Gesicht. Ich sag dir, es klappt immer. Ada legte Olaf die Hand auf den Arm und begann zu lachen, er fasste ihren Ellenbogen und schob sie, unentwegt redend, Richtung Klassentür. Jetzt ging es um seine Band, 10 Ohren hören mehr als 2, ein guter Name, er stammte von ihm selbst, und auch wenn wegen der Länge gewöhnlich von den
Ohren gesprochen wurde, was ein wenig nach den Hosen klang, gefiel er ihm noch heute. Sogar die Rolling Stones wurden mit Stones abgekürzt, und überhaupt entgingen nur Namen, die aus einem Wort bestanden, diesem Schicksal, Megadeth zum Beispiel, Metallica oder Sepultura. Mit einem Springerstiefel trat er Joe auf den Fuß. Verzeihung, Johanna, das wollte ich nicht. Als Ada ihren Sitzplatz erreichte, wurde sie gerade zur Bandprobe am Nachmittag eingeladen und fand endlich die Sprache wieder. Sie habe nichts gegen Heavy Metal, im Gegenteil, einige Gruppierungen vereinten wirklich hervorragende Musiker, Dream Theater zum Beispiel, von denen einige auf der Berklee School of Music in Boston studiert hatten. So viel hatte sie in einer Zeitung gelesen. Olaf war entzückt, dass sie Dream Theater kannte und keine Erklärungen darüber brauchte, dass Lärm nicht selten nach klassischen Sinfoniestrukturen aufgebaut war. Begeistert klopfte er ihr auf die Schulter, was schon nicht mehr Teil der Show war, und begab sich, vom Lehrer ermahnt, als Letzter auf seinen Platz.
»Was ist mit deinem Auge passiert«, flüsterte die Banknachbarin von links, mit der Ada noch nie ein Wort gewechselt hatte.
»Wenn ich verheiratet wäre«, sagte Ada, »würde ich sagen: Ich bin die Treppe runtergefallen.«
Das Mädchen verstand die Anspielung nicht, zog die Mundwinkel herunter, stieß das Kinn vor und erinnerte dabei an einen Mediziner, der eine simple Diagnose stellt.
Langsam, ganz langsam hob Ada den Kopf und begegnete Joes Blick, der wie so häufig von der anderen Seite des Klassenraums auf sie zielte. Auf beiden Seiten des Mundes saßen zwei scharfe Falten und ließen Joe für einen Moment wie eine Maske ihres eigenen, zwanzig Jahre älteren Gesichts aussehen, eine optische Divination, der Ada mit Augurenlächeln begegnete. Nie zuvor im Leben war ihr ein Lächeln derart strahlend gelungen. Es ließ einen süßen Geschmack auf der Zunge zurück.
Im Rahmen einer musikalischen
Rückblende offenbart sich der Grund für Adas Anwesenheit auf Ernst-Bloch
Z ur vereinbarten Zeit erschien Ada am Nachmittag vor dem Fahrradkeller.
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