Splitterwelten 01 - Zeichen
stammten. Es waren die Häupter von lupidae – Animalen, die das Aussehen und die wilde Natur von Wölfen hatten. Dass sie auf Jordråk beheimatet waren und die Menschen dort sich einen fortwährenden Kampf mit ihnen lieferten, zumindest das hatte Kalliope gewusst – jedoch die grausigen Folgen dieses Konflikts zu erblicken, erschütterte sie und ließ ihren Magen rebellieren.
Sie bemühte sich, ihre Bestürzung über diesen Akt der Barbarei zu verbergen, und folgte den anderen ins Innere der Festung. Es war ein düsteres Gemäuer, mit den architektonischen Wundern Etheras nicht zu vergleichen, und es war kalt und zugig. Fackeln verbreiteten unstetes Licht, der Geruch von Fäulnis, Rauch und rohem Fleisch lag in der Luft. Kein Zweifel – es war eine primitive Welt.
»Wohin bringst du uns?«, wollte Kalliope von Hakkit wissen.
»In die Große Halle«, gab der Diener zur Antwort. »Heute ist Richttag.«
»Was bedeutet das?«
»Dass der Fürst heute über jene zu Gericht sitzt, die gegen das Gesetz verstoßen haben.«
»Ist er denn ein Rechtsgelehrter?«, erkundigte sich Kalliope staunend.
Hakkit blieb für einen Augenblick stehen und wandte sich zu ihr um. Seine eigenartigen Züge wirkten belustigt. »Das ist nicht nötig, Gildeschülerin«, versicherte er. »Der Fürst hat seine eigene Weise, mit diesen Dingen zu verfahren.«
Damit setzte er seinen Weg fort, und durch ein längliches Gewölbe, das zu beiden Seiten von Wachen gesäumt wurde, erreichten sie die Große Halle.
Kalliope verspürte Enttäuschung, denn die Halle war längst nicht so riesig, wie der Name vermuten ließ. Zehn hölzerne Säulen, fünf auf jeder Seite, trugen ein von rauchgeschwärzten Balken getragenes Gewölbe. Zwischen den Säulen waren Tische aufgestellt, an denen die Vornehmen Jordråks versammelt saßen – oder besser jene, die sich dafür hielten. Wohin Kalliope auch blickte, sah sie grobe Gestalten, deren Mienen von zottigen Bärten und Mähnen aus blondem bis rötlichem Haar umrahmt wurden und die primitive, aus Tierhörnern gefertigte Trinkgefäße in ihren Pranken hielten.
An der Stirnseite der Halle, dort, wo das Banner von Thulheim an der Wand hing und ein offener Kamin Licht und Wärme spendete, stand ein erhöhter, mit zottigem Fell beschlagener Sitz, auf dem ein grauhaariger Mann thronte. Wie die anderen war auch er mit einem fellbesetzten Rock aus derbem Leder bekleidet, über dem er einen wollenen, von einer Fibel zusammengehaltenen Umhang trug. Allerdings waren sein Haar und Bart kurz gestutzt, was ihn halbwegs zivilisiert erscheinen ließ. Auf seiner Stirn ruhte ein silberner Reif, seine Hände lagen auf dem Knauf eines wuchtigen, in eine reich verzierte Scheide gehüllten Schwertes, auf das er sich stützte. Dies war Thor Magnusson, der Herrscher von Jordråk.
Den Blick seiner blaugrauen Augen, dem so leicht nichts zu entgehen schien, hatte Magnusson auf einen dürren Mann gerichtet, der vor ihm auf dem steinernen Boden kniete, das Haupt ehrerbietig gesenkt. Die knochigen Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt, zwei Krieger bewachten ihn – offenbar ein überführter Gesetzesbrecher.
»Andwari Bjarson«, sagte der Fürst mit respektgebietender Stimme, die von der Decke widerhallte. Die Gespräche an den Tischen verstummten. »Du weißt, was dir zur Last gelegt wird?«
»Ja, Herr«, tönte der Gefangene kläglich.
»Du hast Getreide aus einem unserer Kornspeicher entwendet, obwohl du weißt, dass uns ein harter Winter bevorsteht, und obschon du weder Frau noch Kinder zu versorgen hast.«
»Ja, Herr.«
»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«
Der Angeklagte, dessen Gesicht Kalliope nicht sehen konnte, hob zögernd den Kopf. »Ich weiß nicht, was mich überkam, Herr«, antwortete er mit weinerlicher Stimme. »Ich war hungrig …«
»Wir alle sind bisweilen hungrig, Andwari«, entgegnete der Fürst. Auf sein Schwert gestützt, das wohl Zeichen seiner Herrschermacht war, beugte er sich vor. »Der frühe Schnee und die Wolfskrieger setzen uns schon genug zu, auch ohne dass wir uns gegenseitig bestehlen. Was, Andwari Bjarson, bleibt uns noch, wenn wir uns gegenseitig nicht mehr vertrauen können?«
»Ich weiß, ich weiß«, versicherte der Gescholtene anstatt einer Antwort. »Ich weiß.«
Magnusson nickte und betrachtete ihn eine Weile lang. »Um dich für deinen Verrat an unserem Volk zu bestrafen«, sagte er dann, »und um auszuschließen, dass du jemals wieder tust, was du getan hast, wirst
Weitere Kostenlose Bücher