Spring in den Himmel
ihr Zimmer. Sie stand auf, ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Yoyo hatte Vaters Tee getrunken und die Gläschen gelobt. Und so getan, als würde sie keinen Alkohol mehr trinken. Ob das stimmte? Seit wann trank sie nichts? Sie hatte kein Wort davon gesagt.
Es klang so überzeugend, wenn Yoyo erzählte, vollkommen plausibel, gerade weil es manchmal so unwahrscheinlich war. Wie hatte Yoyo einmal gesagt? So was kann man sich nicht ausdenken, so was passiert einem einfach.
Wann sagte Yoyo die Wahrheit und wann nicht? Was war dran an all den Storys, die sie ihr, Jamina, erzählt hatte? Die italienische Mutter, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, der Vater ein eiskalter Banker, der seine Freundinnen mit nach Hause brachte. Sie lebte bei Onkel und Tante, dann war einige Jahre die Oma da, die nun gestorben war … Gab es diese vielen schrecklichen Menschen, die Yoyo das Leben zur Hölle gemacht hatten, auch in der Realität? Waren es Übertreibungen, Fantasien oder Lügen? Machte sie sich damit wichtig? Fand sie es lustig, andere mit ihren Geschichten an der Nase herumzuführen? Auch sie, ihre angeblich beste und einzige Freundin? Oder tat sie Yoyo unrecht und sie hatte all diese Dinge wirklich erlebt, sollte sie ihr mehr vertrauen?
Auf einmal fiel ihr ein, dass Yoyo bei einem ihrer Treffen von einer Wohngemeinschaft in Schwabing erzählt hatte, wo sie manchmal schlief. »Mein Dad ist ja fast nie da und allein in dem großen Haus … das ist manchmal echt gruslig, weißt du. Mittendrin kommt er dann doch wieder, dann schleppt er irgendeine Frau an und die bleibt ein paar Tage. Wolltest du mit einer halb nackten wildfremden Frau beim Frühstück sitzen oder sie im Bad treffen?«
»Wie bist du denn zu dieser WG gekommen?«
»Ach, mit einem von denen hatte ich mal was. Da bin ich öfter bei ihm gewesen – und irgendwann hatte ich auch einen Schlüssel. Die Beziehung war bald vorbei, aber den Schlüssel durfte ich behalten, weil ich mit den anderen ziemlich gut klarkam. Bei denen ist immer irgendwo ein Bett frei oder ich penne auf dem alten Sofa in der Küche.«
Weshalb war Yoyo nicht in diese WG gefahren, sondern lieber hiergeblieben? Wenn Jamina ehrlich war: Sie wäre auch nicht mehr gegangen. Es war Nacht, es hatte zu regnen begonnen, noch einmal raus in die Dunkelheit, noch einmal mit der U-Bahn in die Stadt fahren … Sie hatte sich wohlgefühlt und war eben geblieben. So war Yoyo.
Vielleicht wollte Yoyo sie schützen, als sie beim Essen nicht sagte, wie sie beide sich wirklich kennengelernt hatten.
Die Eltern hätten sich wohl gewundert, warum Jamina nichts von ihrer Schwarzfahrt und der Flucht vor den Kontrolleuren erzählt hatte. Außerdem hätte sie Yoyo doch widersprechen können: Stopp, das war ein bisschen anders, erinnerst du dich nicht? Ich bin aus Versehen schwarzgefahren und du hast mich gerettet. Es wäre doch ganz leicht gewesen, Yoyos Schilderung so zu korrigieren. Und dass andere Dinge nicht zur Sprache kamen, wie der Bungee-Sprung, da war Jamina eher froh. Das hätten die Eltern bestimmt nicht verstanden.
Der Bungee-Sprung … Jamina spürte, wie sie allmählichdoch müde wurde. Leise schlich sie sich in ihr Zimmer zurück und legte sich auf die Matratze.
Jamina betrachtete Yoyo, die sich leise murmelnd umdrehte und weiterschlief. Wie sich ihr Leben verändert hatte, seit sie Yoyo kannte. Selbst in der Klasse war sie eine andere. Yoyo und sie hatten so viele Dinge gemacht, an die sie vorher nicht einmal gedacht hätte. Ja, Yoyo machte ihr Leben heller. War es da noch wichtig, ob alles so genau stimmte, was sie erzählte?
Vier Mal hörte Jamina die Uhr im Wohnzimmer noch schlagen, dann schlief sie ein. Ihr letzter Gedanke war, wie das Wochenende wohl aussehen würde. Wenn Yoyo am Samstag nach dem Frühstück ging, dann wäre wieder alles wie immer in ihrer Familie.
»Aufstehen, Schlafmütze, aufstehen!«
Jamina wusste für einen Moment nicht, wo sie war. Dann sah sie das strahlende Lächeln ihres Bruders Rafik und seinen kleinen Goldhamster, den er ihr aufs Gesicht setzte.
Die Haare des Hamsters kitzelten sie in der Nase, sie pustete und schob das kleine Tierchen weg.
»Tu Spiderman nicht weh! Es geht ihm heute sowieso nicht so gut, er hat noch gar nichts gefressen«, rief Rafik und nahm ihn wieder liebevoll in die Hand. »Und steh endlich auf. Es gibt Frühstück.«
Der Tisch war bereits gedeckt, so großartig wie sonst nur an ganz besonderen Tagen. Die
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