Stachel der Erinnerung
wandte sich ab und ging zur Tür. »Wenn ihr
beide mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe Pläne für den heutigen Abend.
Wir sehen uns dann morgen.«
»Ich hatte
gehofft, du würdest mit uns zu Abend essen«, warf sein Vater ein. »Es sind
viele Wochen vergangen, seit wir uns gesehen haben.«
»Nicht
heute abend.«
»Morgen?
Das wird die letzte Möglichkeit vor der Hochzeit sein. Ich hatte eine kleine
Zusammenkunft geplant, zu Ehren von Jessica. Nicht das Übliche, nur einige
wenige Gäste. Der Herzog hat ebenfalls seine Zustimmung gegeben dabeizusein,
ebenso seine Mutter, die Herzogin. Cornelia wird teilnehmen und Gwendolyn
Lockhart. Ich hoffe, daß du auch dasein wirst.«
Zuerst
antwortete Matt nicht, und Jessie glaubte schon, er würde ablehnen. Doch dann
nickte er zustimmend mit dem Kopf. »Wie du wünschst, Vater. Bis morgen abend
dann.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Jessie sank
auf das Sofa. »Ich kann es kaum fassen, daß er hier ist.«
»Natürlich
ist er hier. Er ist der Erbe von Belmore. Es ist nur angemessen, daß er bei
deiner Hochzeit dabei ist.«
Jessie sah
zu ihm auf, ihr Blick war voller Schmerz. »Wie konntest du das tun?« flüsterte
sie. »Weißt du denn nicht, wieviel schwerer es mir fallen wird, jetzt, wo
Matthew zuschaut?«
»Jessica
...«
»Es tut mir
leid«, sagte sie und stand auf. »Ich weiß, du hast es gut gemeint. Ich wünschte
nur ... ich wünschte nur, du hättest es mir gesagt.« Mit diesen Worten lief
Jessica aus dem Raum, die Treppe hinauf, in ihr Zimmer.
Der nächste Tag schien nicht vergehen zu
wollen. Ihr Hochzeitskleid hing an der Tür ihres Schrankes: weiße Brokatseide
mit silbernen Fäden durchzogen, mit hoher Taille und kleinen Puffärmeln. Das
Mieder war blau abgesetzt, und eine lange, blau-silberne Schleppe würde an dem
Kleid befestigt werden, wenn sie es angezogen hatte. So wunderschön das Kleid
auch war, bei seinem Anblick fühlte Jessie sich verloren.
Lieber
Gott, Matthew war hier.
Sie hatte
gedacht, sie würde ihn monatelang nicht wiedersehen, vielleicht sogar
jahrelang. Bis dahin hätte sie sich eingerichtet in der Ehe und sich mit ihrem
neuen Ehemann abgefunden. Statt dessen befand er sich nur wenige Zimmer
weiter, auf demselben Flur wie sie, und er würde ihr heute abend im Speisesaal
gegenübersitzen. Sie würde gezwungen sein, ihn anzulächeln. Sie würde sich
höflich unterhalten müssen, wenn sie sich doch am liebsten in seine Arme
geworfen, ihn geküßt und ihm dann gestanden hätte, daß sie ihn liebte.
Doch so
etwas würde sie natürlich nicht wagen. Matthew wollte sie nicht, höchstens für
ein kurzes Abenteuer im Bett. Mit dem Herzog würde sie Kinder haben. Sie würde
vor ihrer Vergangenheit sicher sein, und mit der Zeit würde sie bestimmt
glücklich werden.
Jessie lief
unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Sie versuchte zu lesen, zu sticken – doch
nichts konnte sie ablenken. Die Stunden zogen sich dahin. Selbst Viola gelang
es nicht, ihr ein Lächeln zu entlocken. Sie seufzte erleichtert, als die
Abenddämmerung anbrach. Nachdem sie gebadet und sich von Vi das Haar hatte
aufstecken lassen, begann sie sich anzukleiden. Sie trug heute abend ein
mitternachtsblaues Seidenkleid, mit schwarzem Tüll abgesetzt und mit glänzenden
schwarzen Perlen verziert. Die Robe war sehr elegant mit einem tief
ausgeschnittenen Mieder – ein Kontrast zu ihrem keuschen weißen Hochzeitskleid
–, und sie sah darin sehr feminin und verführerisch aus. Insgeheim hoffte sie,
Matthew würde vor Verlangen nach ihr brennen.
»Du gehst
jetzt besser nach unten«, ermahnte Vi sie und tätschelte ihr die Schulter.
»Wenn du es aufschiebst, wird es auch nicht leichter werden.«
Die Uhr
tickte laut und erinnerte sie daran, daß sie zu spät kam. Gut, fand sie mit
einem Anflug von Aufmüpfigkeit und dachte daran, wie sehr Matt Unpünktlichkeit
haßte, obwohl sie ja eigentlich nie absichtlich unpünktlich war. Ein letzter
nervöser Blick in den Spiegel, dann lief sie in den Flur und die Treppe
hinunter. Ein Lakai öffnete ihr die Tür zum Salon, der vom sanften Schein der
brennenden Kerzen in den Lampen erwärmt wurde.
»Jessica,
meine Liebe, komm herein, komm herein. Wir haben alle schon auf dich
gewartet.«
»Guten
Abend, Papa Reggie.« Sie lächelte, als er ihr einen Kuß auf die Wange gab, doch
innerlich zitterte sie. »Ich wollte mich nicht verspäten.«
»Es ist
schon in Ordnung, meine Liebe. Einer Braut kann man so etwas nachsehen.«
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