Stachel der Erinnerung
Er
lächelte. »Dein Verlobter ist hier, zusammen mit seiner bezaubernden Mutter,
Ihre Ehren, die Herzogin von Milton.«
Jessie sank
in einen Hofknicks. »Guten Abend, Euer Ehren.«
»Ihr seht bezaubernd aus«,
versicherte ihr der Herzog und beugte sich
über ihre Hand. »Findet Ihr nicht auch, Mutter?« Die ältere Dame lächelte
Jessie warm an. »Jessica wird eine wunderschöne
Braut sein.«
Jessie war
noch immer erstaunt, daß die Herzogin so bereitwillig mit ihrer Verlobung
einverstanden gewesen war. Immerhin besaß sie keinen Titel, und selbst wenn
die Geschichte gestimmt hätte, die der Marquis über ihre Herkunft erfunden
hatte, dann wäre sie nur eine sehr weit entfernte Cousine von ihm. Jessie nahm
an, daß es Jeremy gewesen war, der seine Mutter dazu gebracht hatte, diese
Heirat zu erlauben. Jeremy wollte sie zur Frau haben, und der junge Herzog
bekam eben immer alles, was er wollte.
Jeder andere
junge Mann wäre bei einer solchen Erziehung selbstsüchtig und verwöhnt
geworden.
Jessie
lächelte ihn an und versuchte, sich nicht nach Matthew umzusehen. Doch dann
entdeckte sie ihn. Er stand neben Gwen und lächelte über etwas, das ihre
zierliche, dunkelhaarige Freundin gesagt hatte. Als sie den freundlichen Blick
registrierte, mit dem er Gwen ansah, stieg in Jessie eine heftige Eifersucht
auf.
Du liebe
Güte, Gwen interessierte sich nicht für Matthew und auch für keinen anderen
Mann. Ihre Abneigung dem männlichen Geschlecht gegenüber war beinahe
genausogroß wie der Haß, den sie für ihren Stiefvater fühlte.
»Matthew«,
sprach ihn sein Vater an, und er hob den Kopf. »Jetzt, wo Jessica da ist,
können wir mit dem Essen beginnen.«
Matthew
richtete seine tiefblauen Augen auf sie und musterte sie einen endlosen Moment.
»Gute Idee«, meinte er und zwang sich, den Blick von ihr loszureißen. Ein
gequältes Lächeln trat in sein Gesicht. Er bot Gwen den Arm und ging dann zu
Lady Bainbridge, während sein Vater Jeremys Mutter zu Tisch führte, eine
stattliche Frau von Anfang Fünfzig, deren Haar noch keine silbernen Strähnen
aufwies.
Jessie riß
sich zusammen, als Matthew an ihr vorüberging. Sie wandte sich ab und nahm den
Arm, den ihr der Herzog bot.
»Das Kleid
ist wunderschön«, bemerkte Jeremy. »Es unterstreicht noch das Blau Eurer
Augen.« Sein Blick ruhte kurz auf ihren Brüsten, dann sah er ihr mit einem
liebenswürdigen Lächeln ins Gesicht. Jessie wünschte, sie könnte seine Freund
lichkeit erwidern, doch statt dessen war ihr Innerstes eiskalt, und ihr war
übel.
Das
Abendessen dehnte sich genauso zäh wie schon der ganze Tag – ein üppiges Mahl
mit Seezunge in Creme, Rebhuhn und Wild, auf Sèvres-Porzellan mit Goldrand
serviert. Auf silbernen Platten türmten sich die Köstlichkeiten: Fasaneneier
in Austernsauce, Kalbsmilch, eine Auswahl dampfender, frischer Gemüse und eine
süße Nachspeise in der Form eines Herzens.
Für Jessie
schmeckte das alles wie Sägemehl.
Mit
Rücksicht auf den Krieg wurden zu jedem Gang portugiesische Weine serviert und
keine französischen. Jessie trank mehr, als sie eigentlich sollte. Sie
versuchte, ihre Blicke auf Jeremy zu richten, der sie anstarrte, als sei sie
ein Weihnachtsgeschenk, das er bald auspacken durfte.
Matthews
Gesicht zeigte nicht die leiseste Regung. Er gab all die höflichen Antworten,
die von ihm erwartet wurden, er lachte an den richtigen Stellen und teilte
seine Aufmerksamkeit zwischen Lady Bainbridge und Gwen.
Nur ein
einziges Mal bekam seine Maske einen Riß – einen kurzen Moment lang, als ihre
Blicke sich trafen und einander gefangenhielten. Er sah zornig aus, irgendwie
verstimmt, doch Jessie konnte sich einen Grund dafür nicht vorstellen.
In ihrem
Blick lag tiefes Bedauern und vielleicht auch ein wenig Sehnsucht. Sie fragte
sich, ob Matthew das wohl erkannt hatte.
Nach dem
Essen zogen sich die Männer zurück, um ihre Zigarren zu rauchen und Portwein
zu trinken, und die Damen gingen in den Salon. Gwen mußte bemerkt haben, wie
angespannt Jessie war, denn während der nächsten Stunde sprach sie häufig von
der Nervosität einer Braut und von Jessies bevorstehender Hochzeit. Außerdem
half sie ihr unauffällig, wenn sie in der Unterhaltung einen Fehler machte.
Weil der
nächste Tag wieder anstrengend sein würde, endete das Abendessen ziemlich früh.
Die Gäste fuhren nach Hause, und Jessie, Papa Reggie und Matthew zogen sich in
ihre Zimmer zurück. Sie hörte Matthews Schritte, der im Zimmer neben dem ihren
unruhig
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